Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

2) Fachwissenschaftlicher Überblick Seite 4 von 4

 
„Ein irritierender und schwer zu akzeptierender Gedanke“ –
Rezeption des Widerstands der Zeugen Jehovas

 
Die Verfolgung und der Widerstand der Zeugen Jehovas fand in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und in der Öffentlichkeit bis in die 90er Jahre hinein fast keine Beachtung; sie wurden zu „vergessenen Opfern“. Dem Stillschweigen in der Bundesrepublik stand in der DDR seit 1950 die erneute Verfolgung der Glaubensgemeinschaft gegenüber. Die vielen Zeugen Jehovas in den ersten Nachkriegsjahren zugesprochen staatliche Unterstützung als „Opfer des Faschismus“ wurde widerrufen; stattdessen wurden sie als angebliche „imperialistische Agenten“ wegen staatsfeindlicher Betätigung, Spionage und „Kriegshetze“ wieder inhaftiert, in einigen Fällen sogar von ehemaligen Mithäftlingen.
Der Religionswissenschaftler Gerhard Besier schreibt es „dem Mechanismus der gesellschaftlichen Marginalisierung und der Ausgrenzung [zu], dass die einzigartige Kontinuität der Verfolgung in beiden deutschen Diktaturen über Jahrzehnte hinweg von der Forschung kaum wahrgenommen wurde, von der Öffentlichkeit ganz zu schweigen“52. Auch der Historiker Detlef Garbe sieht den Hauptgrund für das langjährige Desinteresse in Ressentiments gegenüber den mit dem Stigma „Sekte“ belegten Zeugen Jehovas.53 Insbesondere die „Erkenntnis, dass gerade jene ‚frömmelnden Fanatiker‘54 sich konsequent dem verbrecherischen Regime verweigert haben, währenddessen andere – auch die meisten Christen – dazu entweder nicht willens waren oder die Kraft zum Widerstehen nicht fanden, ist für viele ein irritierender und schwer zu akzeptierender Gedanke“55. Durch eine politisch-administrative Einteilung der Opfer in verschiedene Kategorien wurden Jehovas Zeugen ebenso wie andere Opfergruppen aus der offiziellen Version der Erinnerung ausgeblendet.56 Bis heute sind manche Kritiker der Zeugen Jehovas nicht an einer objektiven Analyse des historischen Befundes interessiert, sondern haben bereits vorab ein abwertendes Urteil festgelegt.57 Solche Vorurteilsgewissheiten „ersparen differenzierte Beobachtung und Analysen, sie machen bestimmte Auseinandersetzungen überflüssig“ oder sollen sie verhindern, um potentiell Schmerzhaftes oder potentiell Gefährliches zuzudecken.58
Die Kommunistin Gertrud Keen beschrieb das Verhalten der Bibelforscherinnen im Konzentrationslager Moringen mit den Worten: „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas.“41 Viele Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager bestätigen dieses Urteil: Sie bewundern übereinstimmend die Glaubensfestigkeit und innere Ausgeglichenheit, die Tapferkeit und Sturheit sowie die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Häftlinge mit dem lila Winkel. Frömmigkeit und Religiosität wurden für sie zu identitätsstabilisierenden Faktoren und damit zu wichtigen Überlebenshilfen. Für das Standhalten war aber auch der solidarische Rückhalt in der Gruppe von wesentlicher Bedeutung. Da sich die Zeugen Jehovas sehr intensiv um ihre kranken und schwachen Glaubensgeschwister bemühten, konnten viele von ihnen selbst im Fall schwerer Erkrankungen gesund gepflegt werden. Diese Solidarität bewährte sich besonders, als Zeugen Jehovas als Strafe von der „Behandlung“ im Krankenrevier ausgeschlossen waren. Andere Häftlingsgruppen entwickelten kaum solche gemeinsamen Verhaltensstrategien.42
Häufig wenden kirchliche Weltanschauungsbeauftragte ein, die Thematisierung der Geschichte der Zeugen Jehovas nutze nur deren Mission, oder sie versuchen gar, die mit dem Gegenstand befassten Historiker auf mehr oder weniger subtile Weise der „Sektennähe“ zu bezichtigen und dadurch zu diskreditieren. „Wer so argumentiert, wird jedoch weder dem historischen Sachverhalt gerecht, demzufolge die Zeugen Jehovas zu den am härtesten betroffenen Opfergruppen zählten, noch zeugt seine Position von großem Zutrauen in die eigene Urteilsfähigkeit der Menschen.“ Die Opfer, „die um ihres Glaubens willen Verfolgung litten und eher den eigenen Tod hinzunehmen gewillt waren, als sich an Kriegshandlungen zu beteiligen“, verdienen es jedoch, dass ihre Geschichte mit der gebührenden Sachlichkeit für die Zukunft bewahrt wird und ihrer mit Hochachtung und Respekt gedacht wird. 59
 

52 Gerhard Besier, Clemens Vollnhals (Hgg): Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur, Berlin 2003, S. 2.
53 Garbe spricht sogar davon, dass „bewusst eine Strategie des ‚organisierten Vergessens‘ betrieben“ worden sei. Vgl. Detlef Garbe: Die ‚vergessenen Opfer’. In: Verachtet – verfolgt – vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes, 2. Aufl., Hamburg 1988, S. 5ff.
54 Wenngleich Garbe hier zitiert, so gelingt es ihm selbst auch nicht, sich wertender Äußerungen zu enthalten, wenn er z.B. von ihrer „in rationalen Kategorien nur schwer fassbare[n] Glaubenslehre“ spricht. Glaubenslehren sind per se rational nicht fassbar. Glaubensinhalte derart zu qualifizieren, lässt Objektivität vermissen, da mit objektiven Kriterien nicht beweisbar ist, ob es z. B. nach dem Tod eine Wiedergeburt oder eine Auferstehung gibt oder man „in den Himmel kommt“.
55 Detlef Garbe: Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Forschungsstand. In: Besier/Vollnhals 2003, S. 35f.
56 Innerhalb der Glaubensgemeinschaft trifft dies allerdings nicht zu. Seit Kriegsende sind in der Literatur der Zeugen Jehovas etwa 250 Lebensberichte von Opfern in bis zu 128 Sprachen und in Auflagen von bis zu 22 Millionen Exemplaren publiziert worden.
57 Detlef Garbe: Gesellschaftliches Desinteresse, staatliche Desinformation, erneute Verfolgung und nun Instrumentalisierung der Geschichte? In: Hesse 2000, S. 302ff.
58 Anton Pelinka: Tabus in der Politik. Zur politischen Funktion von Tabuisierung und Enttabuisierung. In: Peter Bettelheim, Robert Streibel (Hgg.): Tabu und Geschichte. Zur Kritik des kollektiven Erinnerns, Wien 1994, S. 21f.
59 Garbe 2003, S. 34.

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