Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

2) Fachwissenschaftlicher Überblick Seite 3 von 4

 
„Auch wenn ich wanderte im Tale des Todesschattens“36
Grenzerfahrung Konzentrationslager

 
Zeugen Jehovas wurden von 1933 an in Konzentrationslager eingewiesen. Seit Mitte der dreißiger Jahre wurde die „Schutzhaft“ im KZ dann zunehmend zu einem strafverschärfenden Instrument mit dem Ziel der „Dauerverwahrung“ aller unbeugsamen Zeugen Jehovas. Im Frühjahr 1937 wurde diese Praxis durch einen Gestapa-Erlass institutionalisiert: „Sämtliche Anhänger der IBV, die nach Beendigung der Strafhaft aus den Gefängnissen entlassen werden, sind unverzüglich in Schutzhaft zu nehmen; ihre Überführung in ein Konzentrationslager ist ... zu beantragen.“37 Dadurch stieg der Anteil der Zeugen Jehovas an den KZ-Häftlingen bis 1939 auf mindestens 5 bis 10 % an, in vielen Lagern, vor allem in den Frauen-KZ, erreichte er aber einen höheren Prozentsatz.38
Als einzige religiöse Gruppe wurden Zeugen Jehovas durch ein eigenes Abzeichen, den „lila Winkel“39, stigmatisiert. Dies „trug zugleich der tatsächlichen ‚Sonderstellung‘ dieser sich im Verhalten von anderen Häftlingskategorien unterscheidenden Gruppe Rechnung.“40 Die Unbeugsamkeit und der Bekennermut der Zeugen Jehovas ließen sie zum besonderen Hassobjekt der SS werden. Mit bestialischer Gewalt versuchte die SS, ihre außergewöhnliche Resistenz zu brechen. In den Kriegsjahren verschlimmerte sich zunächst die Situation der inhaftierten Zeugen Jehovas, doch ab 1943 traten teilweise Verbesserungen ein, da sie angesichts der stark wachsenden Häftlingszahlen als deutschsprachige Häftlinge mit langjähriger KZ-Erfahrung zu begehrten Arbeitskräften wurden, die häufig Vertrauensstellungen (z.B. als SS-Bedienstete) erhielten. Obwohl die Zeugen Jehovas die Lagerordnung genau beachteten und die ihnen übertragenen Arbeiten gewissenhaft ausführten, zeigten sie sich dort unbeugsam, wo ihnen Handlungen abverlangt wurden, die sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten. So kam es zu zahlreichen kollektiven Verweigerungsaktionen z.B. gegenüber Arbeiten in der Rüstungsproduktion.
Die Kommunistin Gertrud Keen beschrieb das Verhalten der Bibelforscherinnen im Konzentrationslager Moringen mit den Worten: „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas.“41 Viele Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager bestätigen dieses Urteil: Sie bewundern übereinstimmend die Glaubensfestigkeit und innere Ausgeglichenheit, die Tapferkeit und Sturheit sowie die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Häftlinge mit dem lila Winkel. Frömmigkeit und Religiosität wurden für sie zu identitätsstabilisierenden Faktoren und damit zu wichtigen Überlebenshilfen. Für das Standhalten war aber auch der solidarische Rückhalt in der Gruppe von wesentlicher Bedeutung. Da sich die Zeugen Jehovas sehr intensiv um ihre kranken und schwachen Glaubensgeschwister bemühten, konnten viele von ihnen selbst im Fall schwerer Erkrankungen gesund gepflegt werden. Diese Solidarität bewährte sich besonders, als Zeugen Jehovas als Strafe von der „Behandlung“ im Krankenrevier ausgeschlossen waren. Andere Häftlingsgruppen entwickelten kaum solche gemeinsamen Verhaltensstrategien.42
Auch unter Lagerbedingungen versuchten Zeugen Jehovas, ihr Glaubensleben fortzuführen. So wurde illegale Literatur in die Lager geschmuggelt und in manchen Fällen dort sogar vervielfältigt. Sie hielten gemeinsame Bibelstunden ab, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken. Bei allen sich bietenden Gelegenheiten, gaben sie Mithäftlingen oder sogar dem Wachpersonal „Zeugnis“, um neue Anhänger für ihren Glauben zu finden. Durch die unter großer persönlicher Gefahr fortgeführte Missionstätigkeit erhielt ihr Häftlingsdasein sogar einen gewissen Sinn. Einige Mithäftlinge nahmen tatsächlich den Glauben der Zeugen Jehovas an und es fanden in den Konzentrationslagern sogar heimliche Taufen statt.
Um den Willen der Bibelforscher zu brechen, machte ihnen die SS das Angebot, aus dem KZ entlassen zu werden, sobald sie eine „Verpflichtungserklärung“ für Bibelforscher unterschrieben. Zunächst gab es unterschiedliche Textfassungen, die noch nicht die offene Distanzierung von ihrem Glauben verlangten. Einige Zeugen Jehovas sahen sich daher in der Lage, diese Reverse zu unterzeichnen. Zum Teil kam es in den Familien auch zu Absprachen, wer unterschreibt, damit wenigstens ein Elternteil den Kindern erhalten blieb.43 Mit Runderlass vom 24. Dezember 1938 wurde der Wortlaut der „Erklärung“ verbindlich festgelegt und forderte, den Bibelforscherglauben als „Irrlehre“ zu verleugnen und sich zur Denunziation noch aktiver Glaubensbrüder zu verpflichten. Viele Zeugen Jehovas waren eher bereit zu sterben, als sich dazu bereit zu finden, ihr Gott gegebenes Treueversprechen auf diese Weise zu brechen. „Für die Zeugen Jehovas wurde der ,Revers‘ zum Symbol für die ihnen auferlegte Prüfung; für sie galt es, ihre ,Loyalität gegenüber Jehova und seiner Organisation‘ unter Beweis zu stellen und ihre ,Lauterkeit‘ zu wahren.“44

 

„Du sollst nicht töten“45
Kriegsdienstverweigerung im totalen Krieg

 
Der Kriegsdienst stellte für Zeugen Jehovas die totale Negation ihres Glaubens dar: „Unser Gewissen war an der Bibel orientiert und deswegen international. Es wäre für uns undenkbar gewesen, zur Waffe zu greifen und auf andere Menschen zu schießen, nur weil der Staat sie zu Feinden erklärt. Das waren für uns keine Feinde. ... Wir fühlten uns nicht als Deutsche, und deshalb war es uns auch nicht um die deutsche Ehre, den deutschen Ruhm und um das deutsche Vaterland zu tun. Für uns ist der andere einfach der Bruder, selbst der Feind ist es für uns wert, geliebt zu werden.“46
Wegen dieser Überzeugung kamen mit Kriegsbeginn weitere Belastungen auf sie zu. Der neu geschaffene Straftatbestand der „Zersetzung der Wehrkraft“47 bedrohte ihre Haltung mit der Todesstrafe. Wie viele Kriegsdienstverweigerer bis Kriegsende hingerichtet wurden, ist unbekannt, da die Akten nur fragmentarisch erhalten sind. Bislang sind 270 Opfer unter Zeugen Jehovas namentlich bekannt.48 Hanns Lilje schrieb kurz nach dem Krieg über Zeugen Jehovas: „Sie können für sich in Anspruch nehmen, die einzigen Kriegsdienstverweigerer großen Stils zu sein, die es im Dritten Reich gegeben hat, und zwar offen und um des Gewissens willen.“49
Demgegenüber teilte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generaloberst Wilhelm Keitel in einem geheimen Schreiben vom 1.12.39 unter dem Betreff „Behandlung der Bibelforscher“ mit: „Der Führer hat entschieden: Allein in Polen seien mehr als zehntausend anständige Soldaten gefallen, viele tausend Soldaten seien schwer verwundet worden. Wenn er von jedem deutschen Mann, der wehrfähig ist, dieses Opfer fordern müsse, sehe er sich nicht in der Lage, bei ernsthafter Wehrdienstverweigerung Gnade walten zu lassen. Dabei könne kein Unterschied danach gemacht werden, aus welchen Beweggründen der einzelne den Wehrdienst verweigere. Auch Umstände, die sonst strafmildernd in Betracht gezogen würden oder die bei einer Gnadenentscheidung eine Rolle spielten, könnten hier keine Berücksichtigung finden. Wenn also der Wille des Mannes, der den Wehrdienst verweigere, nicht gebrochen werden könne, müsse das Urteil vollstreckt werden. Ich bitte, die Entscheidung des Führers den Gerichtsherrn und den Gerichten mitzuteilen.“50 Dieses „Führerwort“ gab die Richtung vor, der absolute Vorrang der Interessen des Staates galt den Militärjuristen als oberstes Gebot. Allerdings wurde auf die Veröffentlichung der Urteile weitgehend verzichtet, da sie der „feindlichen Propaganda“ nütze und die Verweigerer „in ihrem Fanatismus als Märtyrer“51 stärke.
 

36 Psalm 23,4.
37 Zitiert nach Garbe 1999, S. 291.
38 Im Frauen-KZ Moringen betrug der Anteil der Zeuginnen Jehovas zeitweise sogar 89 %. Vgl. Hesse, Hans; Harder, Jürgen, „... und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste ...“, Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, Essen 2001, S. 41.
39 Ab 1937 wurde für alle Konzentrationslager ein einheitliches System von festgelegten Farbcodes eingeführt. Zeugen Jehovas erhielten einen lila Winkel. Nach Garbe erfolgte „die Eingruppierung der Bibelforscher als eigenständige Kategorie ... aus dem Interesse der SS, die von den anderen Gefangenen zu separierenden Zeugen Jehovas sichtbar kenntlich zu machen“ (Garbe 1999, S. 405f.). Die Kapos und Wächter wussten „das Spektrum des Terrors von öffentlichem Spott und zynischer Demütigung über Androhung von Körperstrafen und Tod bis hin zur realen physischen Misshandlung recht spezifisch nach der äußeren Zuordnung des Inhaftierten auszurichten“. An der Kennzeichnung erkannte man „den Juden, den Kommunisten, den Geistlichen oder den Bibelforscher und auch, wie man ihn physisch oder psychisch zu verletzen habe“ (Cristoph Daxelmüller: Solidarität und Überlebenswille, Religiöses und soziales Verhalten der Zeugen Jehovas in Konzentrationslagern. In: Hesse 1998, S. 25).
40 Garbe 1999, S. 405.
41 Hesse 1998, S. 9.
42 Ausführliche Darstellungen dazu finden sich z. B. bei Daxelmüller 1998 und Kirsten John-Stucke: Zeugen Jehovas im Konzentrationslager in Wewelsburg. In: Hesse 1998.
43 Garbe 1999, S. 303ff.
44 Garbe 1999, S. 303ff.
45 Ex 20,13.
46 Erinnerungen von B. Knöller. Zitiert nach Garbe 1999, S. 354.
47 §5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 26.8.1939.
48 Marcus Herrberger: Zeugen Jehovas als Kriegsdienstverweigerer in der NS-Zeit (1939-1945), S. 234f. In: Marcus Herrberger (Hg.): Denn es steht geschrieben: „Du sollst nicht töten!“ Die Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweigerer unter dem NS-Regime mit besonderer Berücksichtigung der Zeugen Jehovas (1939-1945), Wien 2005. Herrbergers Band enthält ein Verzeichnis der bislang bekannten 270 wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichteten Zeugen Jehovas und von 38 weiteren Opfern, die als Folge einer wehrmachtgerichtlichen Verurteilung ihr Leben verloren. Zu diesen hinzuzuzählen ist ferner die unbekannte Zahl derer, die nach ihrer Kriegsdienstverweigerung in den KZ ermordet wurden oder umkamen. Vgl. Garbe 1999, S. 375. Die Zahl aller bislang erfassten Hinrich-tungen von Jehovas Zeugen durch die Nationalsozialisten liegt bei über 360 Frauen und Männern. Vgl. Wrobel 2003, S. 372.
49 Lilje 1947, S. 59.
50 Zitat nach Garbe 1999, S. 371.
51 Präsident des Reichskriegsgerichts M. Bastian, nach Garbe 1999, S. 368.

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