Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

1) Widerstand und Verfolgung der Zeugen Jehovas als Thema des
Geschichtsunterrichts?

"Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter,
als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und laut zu sagen: Nein."

Kurt Tucholsky1
 
Jehovas Zeugen – oder Bibelforscher2 – wurden vom nationalsozialistischen Regime verfolgt, weil sie nicht bereit waren, ihren Glauben aufzugeben und sich mit der „Volksgemeinschaft“ gleichschalten zu lassen. Es gelang ihnen trotz Verbots und Verhaftungswellen, ihr Gemeindeleben im Untergrund immer wieder zu reorganisieren und ihre Missionstätigkeit fortzuführen. In ihren internationalen und deutschsprachigen Publikationen klagten Jehovas Zeugen die Verbrechen des NS-Regimes und die Gräuel in den Konzentrationslagern vor der Weltöffentlichkeit an.3 Zwei reichsweite Flugblattaktionen (Dezember 1936, Juni 1937) sollten die deutsche Bevölkerung wachrütteln: „Ein Propagandacoup, wie ihn keine andere illegale Gruppe in solcher Größenordnung zustandegebracht hat.“4
Von den etwa 25.000 deutschen Zeugen Jehovas des Jahres 1933 war mindestens jeder zweite von Verfolgung direkt betroffen. Etwa 10.000 Gläubige wurden für eine unterschiedlich lange Dauer inhaftiert, über 2.600 deutsche und 1.400 ausländische Bibelforscher wurden in Konzentrationslager deportiert und dort mit einem lila Winkel stigmatisiert.5 Ca. 1.500 starben oder wurden ermordet. Mit über 360 deutschen und österreichischen Opfern hatten Zeugen Jehovas unter den abgeurteilten Kriegsdienstverweigerern die weitaus meisten Opfer zu beklagen.6 Hanns Lilje, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, befand kurz nach dem Krieg, dass „keine christliche Glaubensgemeinschaft […] sich mit der Zahl ihrer Blutzeugen auch nur von ferne messen“7 könne.
Trotz dieses Befunds blieb ihr Widerstand und ihre Verfolgung von der Historiographie bis in die 90er Jahre hinein weitgehend unbeachtet.8 Jehovas Zeugen wurden zu „vergessenen Opfern“. Erst in den letzten Jahren begannen Historiker, Jehovas Zeugen im Kontext des organisierten Widerstands sys-tematisch zu erforschen. Die Ergebnisse sind auch für den Geschichtsunterricht interessant, denn die Bedingungslosigkeit der Verweigerung der Gläubigen wirft angesichts der großen Zahl zuschauender Mitläufer eine Reihe von Fragen auf. Jehovas Zeugen waren weder Helden noch suchten sie das Martyrium. Es gelang ihnen aber, „sich gestützt auf ihren Glauben und den eisernen Zusammenhalt in ihrer Mitte dem totalitären Zugriff des NS-Regimes, wenn auch zu einem hohen Preis, zu entziehen“9. Diese Feststellung fordert geradezu die Frage heraus, wie sich jeder einzelne heute in einer ähnlichen Situation verhalten würde: Bin ich bereit und in der Lage, angesichts von Gruppendruck und Intoleranz auf die Stimme meines Gewissens zu hören, meinen Idealen treu zu bleiben und dies auch offen zu zeigen? Wann kann, sollte oder muss ich Widerstand leisten? An dieser Stelle wird der unterrichtsrelevante Gegenwartsbezug des Widerstands der Zeugen Jehovas deutlich. Reflexionen dieser Art bieten Schülern die Möglichkeit, aus der Untersuchung des Handelns widerständiger Zeugen Jehovas Perspektiven für das eigene Handeln zu gewinnen sowie die Chancen eigener Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und sie verantwortungsvoll zu nutzen. Die Auseinandersetzung der Schüler mit der für sie fremden religiösen Identität der Zeugen Jehovas kann zudem dazu beitragen, Schülern zu helfen, ihr eigenes Wertesystem zu hinterfragen und Überlegungen hinsichtlich der Sinnfindung der eigenen Existenz anzustellen.
„Die Substanzen, auf der eine moderne Gesellschaft allein demokratisch und humanistisch sicherer gemacht werden kann, sind Toleranz, Anstand, Zuverlässigkeit und Zivilcourage. ... An diese einfache Wahrheit erinnert auch der Widerstand der Zeugen Jehovas gegen die Nazis. Keine im Kern antifa-schistische Partei der Weimarer Republik ... kann auf einen so hohen Anteil von entschlossenem Widerstand in ihren Reihen verweisen wie die scheinbar unpolitischen Zeugen Jehovas. Sie haben uns gezeigt, dass Glaube und Anstand, humanistische Werte und überzeugte Menschlichkeit wenig mit Parteipositionen rechts oder links zu tun haben, wohl aber mit einer Erziehung zu und Einübung von religiösen und ethischen Werten.“10 Angesichts „der zunehmenden Brutalität gegenüber Ausländern sowie gegenüber politisch und weltanschaulich Andersdenkenden sind diese Tugenden ein Gebot für den Bürger unseres Landes“.11 In diesem Sinne kann eine Unterrichtsreihe über den geistigen Widerstand der Zeugen Jehovas dazu beitragen, „aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden zu lassen [und] Lehren [zu] ziehen, die auch künftige Generationen als Orientierung verstehen.“12
 
„12 JAHRE – 12 SCHICKSALE“13
 
Anfang 2003 erinnerte eine Ausstellung im Düsseldorfer Landtag an das Schicksal der NS-Opfergruppe Jehovas Zeugen in Nordrhein-Westfalen. In seiner Eröffnungsansprache wies auch Landtagspräsident Ulrich Schmidt auf die bildungspolitische Relevanz des Themas hin:
 
  „Historisches Lernen ist schwer. Das gilt auch dann, wenn die Befunde von "Gut" und "Böse" so eindeutig sind wie in dem verbrecherischen Ansatz und in dem mörderischen Vollzug der nationalsozialistischen Politik. ... Man darf vor allem diejenigen nicht vergessen, die dem NS-Regime mutig begegneten und Widerstand leisteten.
  Dazu gehörten auch die weithin "vergessenen Opfer", wie die Zeugen Jehovas, die die Nazis mit dem "lila Winkel" an der Kleidung, ähnlich dem Judenstern, brandmarkten. Viele von ihnen sind in Gefängnissen und KZs gequält und ermordet worden, darunter überaus viele Frauen. Diese Opfer waren keine fernen, unerreichbaren Helden, sondern einfache Menschen, Normalsterbliche, die ihrem Gewissen folgend standhaft an ihrer religiösen Überzeugung festhielten, Zivilcourage zeigten und geistigen Widerstand aus christlicher Überzeugung leisteten. Ihnen gilt mein tiefempfundener Respekt. ...
  Wir haben gelernt, dass man durch Schweigen, Wegschauen und mangelnde Zivilcourage mit dazu beiträgt, ein öffentliches Klima entstehen zu lassen, das die gesamte politische Entwicklung vorprägt. Aber: "Der Hof des Satans", wie die jüdische Künstlerin Sara Atzmon sagt, "kann jedoch nur entstehen, wenn es genügend Leute gibt, die hingehen und applaudieren." Und davon gab es mehr als genug!
  Der überwiegende Teil unserer Jugend lernt seit Jahrzehnten an diesem Thema. Dabei hat sich herausgestellt, dass Authentizität und Berichte von Überlebenden besonders glaubwürdig nachwirken. Wenn aber in wenigen Jahren die letzten Überlebenden der Verfolgung, der Lager und Gefängnisse nicht mehr unter uns sein werden, wird die gesicherte Weitergabe ihres Zeugnisses nicht mehr von Angesicht zu Angesicht möglich sein. Dies stellt sich für mich als ein enormes gesellschaftliches und politisches Problem dar. Weil die Zeitzeugen immer weniger werden, brauchen wir eine lebendige Form der Erinnerung. Sie muss Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen. Sie muss aber auch zur steten Wachsamkeit herausfordern.
  Dabei ist das Allerwichtigste, unsere jungen Menschen zu erreichen und ihren Blick dafür zu schärfen, woran man Rassismus und Totalitarismus in den Anfängen erkennt.
  Diese Wanderausstellung hat in den vergangenen Jahren die Herzen vieler tausend Menschen erreicht. Sie trägt mit sehr persönlichen Schicksalen zur lebendigen Erinnerungskultur bei. Deshalb ist sie auch hier im Landtag Nordrhein-Westfalen zu sehen. Ich wünsche ihr die große Beachtung, die sie verdient.“14
 
Im Anschluss an die Ausstellung entstand die Idee, ihre wesentlichen Inhalte in einer Publikation zu dokumentieren, die sich auch für den Gebrauch in Schule und Unterricht eignet. Im Mittelpunkt sollte nicht der Kampf der Glaubensgemeinschaft um den Fortbestand ihrer Existenz stehen, sondern individuelle Biographien einzelner Zeugen Jehovas. Denn es war nicht eine unpersönliche Institution, sondern der einzelne Gläubige, der jeden Tag erneut die Entscheidung treffen musste, ob und zu welchem Preis er seinen Überzeugungen treu bleiben wollte. Ziel war wiederum, mit „persönlichen Schicksalen zur lebendigen Erinnerungskultur“ beizutragen. Bei der Auswahl von zwölf Personen aus dem Raum des heutigen Nordrhein-Westfalen wurde darauf geachtet, eine möglichst große soziokulturelle Bandbreite (z.B. bzgl. regionale Herkunft, Alter, Geschlecht, Beruf) zu dokumentieren und gleichzeitig „typische“ Erfahrungen von Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime aufzuzeigen.15 Die Zuordnung der Personen zu einzelnen Jahren der NS-Herrschaft versucht, die zunehmende Eskalation der Verfolgungsmaßnahmen (beginnend mit Repressionen im Alltag über Strafhaft und KZ-Einweisung bis hin zur Ermordung) zu verdeutlichen.
Um Lehrern und anderen interessierten Lesern der Broschüre „12 Jahre – 12 Schicksale“ eine Einführung in die Geschichte der Verfolgung und des Widerstands der Zeugen Jehovas zu geben, wird im Folgenden kurz der aktuelle Forschungsstand dokumentiert. Im Anschluss werden einige didaktische Überlegungen zur unterrichtlichen Arbeit mit „12 Jahre – 12 Schicksale“ präsentiert. Da in die Broschüre wegen des beschränkten Umfangs nur kurze Auszüge aus den historischen Quellen aufgenommen werden konnten, werden an dieser Stelle relevante Dokumente ergänzt. Die vorliegende Broschüre wurde einschließlich aller Dokumente unter www.standfirm.de/nrw online gestellt. Sie steht dort im html-Format (zip-Archiv) oder im pdf-Format zum Download zur Verfügung.
Für den unterrichtlichen Einstieg in die Thematik empfiehlt sich die Verwendung des Medienpakets "Standhaft trotz Verfolgung - Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" (Quellen, OVH Folien, 28 Min. VHS-Dokumentarfilm, Arbeitsblätter und Unterrichtsvorschläge mit didaktischen Hinweisen). Die Materialsammlung kann in allen Medienzentren des Landes Nordrhein-Westfalen entliehen oder bei der Wachtturm-Gesellschaft (65617 Selters) kostenlos bezogen werden.
 

1 Kurt Tucholsky: Die Verteidigung des Vaterlandes. In: Die Weltbühne, 6. 10. 1921, S. 338f.
2 Die vormals in Deutschland als „Ernste Bibelforscher“ bekannte Glaubensgemeinschaft nahm 1931 den Namen „Jehovas Zeugen“ an. Die alte Bezeichnung blieb teilweise in Gebrauch und wurde von den nationalsozialistischen Machthabern weiterhin benutzt.
3 Vgl. Marion Detjen: „Zum Staatsfeind ernannt …“, Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München, hrsg. v. d. Landeshauptstadt München, München 1998, S. 237.
4 Hartmut Mehringer: Widerstand und Emigration, Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997, S 105.
5 In der Vorkriegszeit stellten Zeugen Jehovas in den Männer-KZ 5 bis 10 % der Häftlinge, in den Frauen-KZ bis zu 40 %, in Moringen sogar über 80 %.
6 Johannes Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main. In: Kirchliche Zeitgeschichte, Jg. 16, Nr. 2, 2003, S. 372. Detlef Garbe geht davon aus, dass die Gesamtzahl der hingerichteten Kriegsdienstverweigerer „nicht wesentlich“ höher gelegen habe als die für die Zeugen Jehovas angenommene Zahl. Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium, Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, Studien zur Zeitgeschichte Bd. 42, 4. Aufl., München 1999, S. 375f.
7 Hanns Lilje: Im finstern Tal, Nürnberg 1947, S. 47.
8 Das bis heute zentrales Standardwerk von Detlef Garbe erschien erst 1993 und liegt inzwischen in vierter Auflage (Garbe 1999) vor.
9 Hans Roser: Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Baden und Württemberg 1933 – 1945. In: Hans Hesse (Hrsg.): „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“, Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, Bremen 1998, S. 253.
10 Klaus von Dohnanyi anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ in Hamburg, Hamburger Abendblatt, 7. 6. 1999.
11 Steffen Reiche, Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg am 27. 1. 1998 bei einer Gedenkfeier im KZ Sachsenhausen, die insbesondere Jehovas Zeugen gewidmet war. Zitiert nach: Wolfram Slupina: Verfolgt und fast vergessen. In: Hesse 1998, S. 329.
12 Bundespräsident Roman Herzog am 19. Januar 1997 vor dem Deutschen Bundestag.
13 Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in NRW (Hg.), 12 JAHRE – 12 SCHICKSALE, Fallbeispiele zur NS-Opfergruppe Jehovas Zeugen in Nordrhein-Westfalen, Münster 2006. Kostenlos erhältlich bei der Landeszentrale für politische Bildung NRW und den Mitgliedern des Arbeitskreises.
14 Pressemitteilung des Landtags NRW vom 22.1.2003 zur Ausstellung „Erinnern für die Zukunft: Die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas in Nordrhein-Westfalen“ (22.1.-7.2.2003).
15 Außer den hier dargestellten ist eine Fülle vergleichbarer Schicksale dokumentierbar. Daraus ergibt sich die interessante Möglichkeit, Schülern auch Personen vorzustellen, die aus ihrem eigenen Heimatort stammen. Bei der Recherche entsprechender regionaler Biographien können die jeweiligen Ortsgemeinden der Zeugen Jehovas oder das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in 65617 Selters/Taunus Hilfestellung leisten.

Michael Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht