Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

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Die Geschichte der Zeugen Jehovas reicht in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Ihre chiliastische Botschaft eines bevorstehenden göttlichen Friedensreiches auf Erden hatte seit Beginn der 1890er Jahre auch in Europa Fuß gefasst. Einen starken Aufschwung erlebte der deutsche Zweig der „Internationalen Bibelforscher-Vereinigung“ (IBV) nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik: zwischen 1918 und 1926 stieg die Zahl der aktiv missionierenden Bibelforscher von knapp 4.000 auf über 22.000 an.
Schon zu dieser Zeit waren die „Ernsten Bibelforscher“ Anfeindungen ausgesetzt. Völkisch-nationale Publizisten wie Hans Lienhardt und August Fetz sowie der NS-Ideologe Alfred Rosenberg stellten die Bibelforscher in den zwanziger Jahren als Agenten der „widerchristlichen, jüdisch-amerikanischen Freimaurerei“ oder als „Schrittmacher des Bolschewismus“16 dar. Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden Jehovas Zeugen als erste Glaubensgemeinschaft verboten. Bis Ende Juni 1933 erließen die meisten Länder des Deutschen Reiches Verbote gegen die IBV.17 Als pseudo-legale Grundlage diente die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.2.1933, die so genannte „Reichtagsbrandverordnung“, durch die von der Verfassung garantierte Grundrechte suspendiert und ein permanenter ziviler Ausnahmezustand geschaffen wurde, der es dem NS-Regime ermöglichte, Unterdrückungsmaßnahmen gegen Andersdenkende mit dem Schein der Legalität zu kaschieren. Das schnelle Vorgehen gegen die IBV geschah im Einvernehmen mit den beiden Großkirchen, die „an allen maßgeblichen Besprechungen über das Verbot der Bibelforschervereinigung“18 mitwirkten.
Die deutsche Leitung der Glaubensgemeinschaft versuchte zunächst, die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die legale Fortexistenz zu erreichen. Aus diesem Grund war sie „– wie damals fast alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland – bemüht, gegenüber dem NS-Regime jeglichen Eindruck einer oppositionellen Haltung oder gar ‚Staatsfeindlichkeit‘ zu vermeiden. Es wurden vielmehr die rein religiösen und unpolitischen Zielsetzungen der Bibelforscher-Vereinigung herausgestellt“19. Doch alle Versuche, das Recht auf freie Religionsausübung zu wahren, blieben ergebnislos.
1934 kündigte die Gemeinschaft Widerstand gegen ihre Auflösung an: eine Flut von Protesttelegrammen aus aller Welt traf in der Reichskanzlei ein. Gleichzeitig wurden erste Absprachen über eine illegale Fortführung der Tätigkeit getroffen. Viele örtliche Gruppen der Zeugen Jehovas hatten sich dem Versammlungsverbot von Anfang an nicht gebeugt. Im Oktober 1934 nahmen Jehovas Zeugen ungeachtet des Verbots auch den zeitweise fast eingestellten „Verkündigungsdienst“ wieder auf.

 

„Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen“20
Dimensionen des Konflikts zwischen NS-Regime und Jehovas Zeugen

 
„Keine andere religiöse, politische oder weltanschauliche Bewegung war in ihrem Gedankengut dem Nationalsozialismus so diametral entgegengesetzt wie die Zeugen Jehovas“21 (vgl. Tabelle 1). Da die Forderungen, die das „Dritte Reich“ auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens stellte, in zentralen Bereichen mit den Glaubensgrundsätzen der Zeugen Jehovas unvereinbar waren, geriet das Verhalten prinzipientreuer Zeugen Jehovas in scharfen Gegensatz zum nationalsozialistischen Staat: Sie grüßten nicht mit „Heil Hitler!“, nahmen nicht an den von den Nationalsozialisten als öffentliches Bekenntnis zum „Führerstaat“ veranstalteten „Wahlen“ teil, verweigerten überwiegend die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften und lehnten den Kriegsdienst ab. Darüber hinaus erforderte ihr religiöses Selbstverständnis die Fortführung des Gemeindelebens und der Missionstätigkeit auch in der Illegalität.
Die demonstrative Weigerung, sich den Verhaltensanforderungen der gleichgeschalteten „Volksgemeinschaft“ zu unterwerfen, kollidierte mit dem Totalitätsanspruch des Regimes. „Totale Beherrschung kann freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut vorhersehbar ist.“22 Da die schrankenlose Ausschließlichkeit der nationalsozialistischen Ideologie den ganzen Menschen beanspruchte und jeder abweichenden Weltsicht ihre Daseinsberechtigung bestritt, waren die konsequente Versagung und die unbeugsame Haltung vieler Zeugen Jehovas für die Nationalsozialisten, neben der ideologischen Ablehnung der Bibelforscherlehre und der Reaktion auf die Fortführung der IBV-Aktivitäten in der Illegalität, Grund genug, sie trotz ihrer geringen Anzahl als Bedrohung zu empfinden und mit großer Härte zu verfolgen.23
 
 
Tabelle 1: Dimensionen des Konflikts
Ideologie der
Nationalsozialisten
  Überzeugungen der
Zeugen Jehovas
Tausendjähriges „Drittes“ Reich Millennium des göttlichen Friedensreiches
(Off 20,1-6; Jes 2,4)
Rassismus,
insbesondere Antisemitismus
Ablehnung von Rassismus (Apg 10,34-5) und Antisemitismus (Joh 4,22)
Nationalismus Internationalismus (Jes 2,2,3; Off 7,9)
Führerprinzip, Hitler als oberste Autorität und Heilsbringer Jehova Gott, Jesus Christus als oberste Autoritäten und Heilsbringer (Apg 4,12; Mat 23,10)
Gleichschaltung, „Volksgemeinschaft“ Strikte Neutralität in politischen Angelegenheiten (Joh 17,16)
Verweigerung absoluten Gehorsams (Apg 4,18-20; Apg 5,27-9)
Militarismus Tötungsverbot und Prinzip der Gewaltlosigkeit (Ex 20,13; Mat 5,43-4)
 

16 Zitiert nach Hubert Roser: Widerstand und Verweigerung der Zeugen Jehovas im deutschen Südwesten 1933 bis 1945. In: Hubert Roser (Hg.): Widerstand als Bekenntnis: Die Zeugen Jehovas und das NS-Regime in Baden und Württemberg, Konstanz 1999, S. 29. Vgl. Monika Minninger: Eine bekennende „Kirche“, Zur Verfolgung von Zeugen Jehovas in Ostwestfalen und Lippe 1933–1945, Bielefeld 2001, S. 11.
17 Nach der Gleichschaltung der Länder wirkte das preußische Verbot vom 24. Juni 1933 wie ein reichsweites Verbot. Die endgültige Auflösung der Wachtturm-Gesellschaft in Magdeburg erfolgte am 1. April 1935.
18 Detlef Garbe: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland – Ein Überblick. In: Kreismuseum Wewelsburg, Fritz Bauer Institut, Bundeszentrale für politische Bildung (Hgg.), Widerstand aus christlicher Überzeugung – Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus, Dokumentation einer Tagung, Essen 1998, S. 17.
19 Roser 1999, S. 37f. Garbe rückt seit der dritten Auflage (1997) seines Werkes „Zwischen Widerstand und Martyrium ...“ von den (einst vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR lancierten) Vorwürfen der Anbiederung der Zeugen Jehovas an das NS-Regime (insbesondere in Verbindung mit einem Kongress am 25. Juni 1933 in Berlin-Wilmersdorf) ab (Garbe 1999, S. 87ff., 553). Vgl. dazu Gerhard Besier, Renate-Maria Besier: Zeugen Jehovas/Wachtturm-Gesellschaft: Eine „vormoderne“ religiöse Gemeinschaft in der „modernen“ Gesellschaft? Gutachterliche Stellungnahme. In: Gerhard Besier, Erwin Scheuch (Hgg.): Die neuen Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubensneid, Teil 2, Zürich 1999, S. 119f.
20 Apostelgeschichte 5,29. Dieses und die nachfolgenden Zitate sind der unrevidierten Elberfelder Bibelübersetzung entnommen, die Jehovas Zeugen zur Zeit des NS-Regimes bevorzugt verwendeten, weil sie den Gottesnamen „Jehova“ enthielt.
21 Minninger 2001, S. 10.
22 Hannah Arendt, zitiert nach Susanne Spülbeck: Ordnung und Angst. Russische Juden aus der Sicht eines ostdeutschen Dorfes nach der Wende, Frankfurt/Main, New York 1997, S. 172.
23 Garbe 1999, S. 165.

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