Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

2) Fachwissenschaftlicher Überblick Seite 2 von 4

 
„Und es ist in keinem anderen das Heil“24
tägliche Konfrontation mit dem Hitler-Gruß

 
Die Weigerung der Zeugen Jehovas, ihre Überzeugungen zugunsten der Gleichschaltung in der „Volksgemeinschaft“ aufzugeben, führte zu massiven Repressionen im Alltagsleben. Dies lässt sich am Beispiel des „Hitler-Grußes“ verdeutlichen.
Der Gruß „Heil Hitler“ erwies sich als wichtiges Instrument der alltäglichen Gesinnungsprüfung. Er unterstützte die Formierung der „Volksgemeinschaft“, da er jedem „Volksgenossen“ fortwährende öffentliche Loyalitätsbekundungen abverlangte. Während er den NS-Anhängern Selbstbestätigung vermittelte, diente er als Mittel der Gewissenskontrolle dazu, den Widerstand von Regimegegnern zu brechen: „Jedesmal, wenn er in der Öffentlichkeit grüßen mußte, war das für ihn ein Erlebnis, das seine Integrität erschütterte und schwächte. Um es genauer auszudrücken: wenn ihn die Situation zum Grüßen zwang, fühlte er sich sofort als Verräter an seinen tiefsten Überzeugungen. ... So mußte der Antinazi viele Male am Tag zum Märtyrer werden oder seine Selbstachtung aufgeben.“25
Für Jehovas Zeugen war der „Hitler-Gruß“ weit mehr als eine öffentliche Loyalitätsbekundung. Einem Menschen die nach ihrem biblischem Verständnis allein Gott vorbehaltene „heilbringende“ Kraft zuzu-schreiben, berührte eine zentrale Frage ihrer christlichen Identität. Nach ihrer Überzeugung stellte der Gruß eine Gotteslästerung und eine nach der Bibel verbotene Menschenverehrung dar. Natürlich wa-ren die Nationalsozialisten nicht im Geringsten bereit, auf derartige religiöse Erwägungen Rücksicht zu nehmen. Die unbeugsame Verweigerung des „Hitler-Grußes“ führte daher zu schweren Konflikten mit dem NS-Regime. Neben willkürlichen Misshandlungen und Provokationen durch SA-Trupps kam es bereits 1933 zu Festnahmen wegen der Verweigerung des Grußes.26

 

„Sie sind nicht von der Welt“27
Zielscheibe des Anpassungsdrucks

 
Die totale Erfassung der Bevölkerung in den Parteigliederungen und den Massenorganisationen führte zu einem System gesellschaftlicher Kontrolle, das jede dem Regime nicht gefällige Haltung zu registrieren suchte. Für die Bibelforscher entstanden hier weitere Probleme, da die Eingliederung in Organisationen wie die „Hitlerjugend“ oder die „Deutsche Arbeitsfront“ faktisch eine Zwangsmitgliedschaft bedeutete. Zeugen Jehovas war jedoch die Beachtung des „christlichen Neutralitätsgebots“ gegenüber politischen Organisationen zwingend. Daher widerstanden die weitaus meisten Mitglieder der Glaubensgemeinschaft den Nötigungen zum Beitritt beziehungsweise zur Betätigung in Organisationen wie der NS-Volkswohlfahrt oder dem Reichsluftschutzbund.
Ihre Kinder in die „Hitlerjugend“ zu schicken, kam für die meisten Zeugen Jehovas nicht in Frage. Eine Flugschrift nennt die Gründe: „1.) Die HJ ist ein Verein, in welchem politische Sachen besprochen und ausgeführt werden. 2.) Bei der HJ grüßt man mit ,Heil Hitler‘. 3.) Dann die vormilitärischen Übungen.“28 Solchen Nichtangepassten drohte der Sorgerechtsentzug. Wegen der Weigerung, der HJ oder dem BDM beizutreten, wurden über 650 Kinder in Hitlerdeutschland und in den okkupierten Nachbarländern der Fürsorge ihrer Eltern entzogen und in NS-Erziehungsheime eingewiesen oder zur Erzie-hung durch nationalsozialistisch gesinnte Pflegefamilien weitervermittelt.29

 

„Denn es ist uns unmöglich, ... nicht zu reden“30
Organisierter Widerstand

 
Jehovas Zeugen veröffentlichten seit Mitte der 1930er Jahre in ihren deutschen und internationalen Publikationen immer wieder Augenzeugenberichte, die auf die Verbrechen der Nationalsozialisten aufmerksam machen sollten. Der „Wachtturm“ und „Das Goldene Zeitalter“ (engl. „The Golden Age“) brachten detaillierte Nachrichten über die Zustände in den Konzentrationslagern, berichteten über Misshandlungen, Folterungen und die schlechten Lebensbedingungen. Bis 1939 wurden solche Materialien durch die Untergrundtätigkeit der Zeugen Jehovas relativ gut verbreitet.31
Im Dezember 1936 stellte die Organisation der Zeugen Jehovas ihre trotz der Verhaftungen ungebrochene Schlagkraft unter Beweis. 200 000 Exemplare einer Protestresolution waren nach Deutschland geschmuggelt und am 12. Dezember 1936 zwischen 17 und 19 Uhr schlagartig im ganzen Reichsgebiet verteilt worden. „Während der ganzen NS-Zeit gab es in Deutschland keine andere Widerstandorganisation, die eine vergleichbare Initiative durchführte.“32 Die Gestapo war von der Aktion völlig überrascht und intensivierte in der Folgezeit ihre Bemühungen, die illegale Organisation zu zerschlagen.
Obwohl der nun einsetzenden Verhaftungswelle reichsweit mehr als tausend „Bibelforscher“ zum Opfer fielen, gelang es den Zeugen Jehovas in kürzester Zeit, die illegalen Netzwerke zu reorganisieren und eine zweite Großaktion zu initiieren. Da die Versuche, das eng beschriebene und im DIN-A3-Format gehaltene doppelseitige Flugblatt „Offener Brief“ aus dem Ausland nach Deutschland zu schaffen, gescheitert waren, wurde es in der Druckerei des Lemgoer Zeugen Jehovas Hermann Strohmeier in einer Auflage von rund 90 000 Stück hergestellt. Am 20. Juni 1937 wurde der „Offene Brief“ zwischen 12 und 13 Uhr wiederum zeitgleich in vielen Orten Deutschlands verteilt. Bei dieser Aktion scheinen gezielt solche Menschen angesprochen worden zu sein, von denen angenommen wurde, dass sie ein solches Flugblatt auch lesen und nicht achtlos wegwerfen würden.33 Die Kampagne sollte die Bevölkerung über die Verbrechen des Regimes aufklären, um die Menschen zu bewegen, dem „Dritten Reich“ die Loyalität aufzukündigen und an ihre Stelle die Loyalität gegenüber Gott zu setzen. „Der ‚Offene Brief‘ prangert wie keine andere inländische Untergrundschrift selbst der kommunistischen Linken die Verfolgungspraktiken des NS-Staates gegen Bibelforscher an unter namentlicher Nennung von Opfern und Tätern.“34
Wieder hatte die Gestapo, die die Organisationsstruktur der IBV bereits für weitgehend zerschlagen wähnte, von den konkreten Vorbereitungen keine Kenntnis erlangt. Die Nationalsozialisten verschärften nun die Aktivitäten der Gestapo nochmals. Von der nun folgenden Verhaftungswelle konnte sich die illegale Organisation nicht mehr erholen. Ein reichsweites Organisationsgefüge bestand seit dem September 1937 nicht mehr, dennoch blieben die einzelnen Gläubigen auf regionaler Ebene konspirativ im Untergrund aktiv.35 Besondere Aktivitäten dienten der Versorgung lokaler Zellen mit Bibelforscherschriften – eine Anzahl Zeugen Jehovas in Deutschland erhielten die illegalen Schriften sogar bis 1945.
Zunächst erhielten viele Gläubige die Schriften aus dem benachbarten Ausland mit der Post zugesandt. Seit Herbst 1934 wurden neue Zeitschriften, Bücher und Broschüren illegal über die Grenzen gebracht. Der eingeschmuggelte „Wachtturm“ wurde dann an mehreren, häufig wechselnden Orten innerhalb Deutschlands abgeschrieben und vervielfältigt. Die für die Anschaffung von Vervielfälti-gungsgeräten sowie den laufenden Bedarf an Farbe und Papier notwendigen Mittel wurden aus den Erlösen des Broschürenvertriebes sowie aus Spenden aufgebracht. Diese Gelder waren Teil der so-genannten „Gute-Hoffnung-Kasse“, aus der außer der Herstellung von Publikationen auch der Unterhalt derjenigen bestritten wurde, die in der Illegalität lebten. Die „Gute-Hoffnung-Kasse“ diente jedoch auch dazu, notleidende Glaubensgeschwister zu unterstützen. So wurden Frauen, deren Männer inhaftiert waren – soweit möglich – mit regelmäßigen Zuwendungen bedacht. Obwohl viele Zeugen Jehovas ihre Arbeit verloren hatten, kamen beachtliche Beträge zusammen, da die Verzichtsbereitschaft und die Solidarität unter den Betroffenen allgemein stark ausgeprägt waren.
 

24 Apostelgeschichte 4,12.
25 Bruno Bettelheim: Aufstand gegen die Masse, Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, München 1960, S. 313.
26 Garbe 1999, S. 159.
27 Johannes 17,16.
28 Zitiert nach Garbe 1999, S. 162.
29 Wrobel 2003, S. 455.
30 Apostelgeschichte 4,20.
31 Sybil Milton: Zeugen Jehovas – vergessene Opfer? In: Kreismuseum Wewelsburg 1998, S. 35. Vgl. Slupina 2000, S. 320, 336.
32 Elke Imberger: Widerstand „von unten“. Widerstand und Dissens aus den Reihen der Arbeiterbewegung und der Zeugen Jehovas in Lübeck und Schleswig-Holstein 1933 – 1945, Neumünster 1991, S. 243ff.
33 Garbe 1999, S. 261.
34 Minninger 2001, S. 16.
35 Gestapo-Denkschrift von 1936. Zitiert nach: Garbe 1999, S. 230.

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