Religiöse Bildung in Deutschland |
Seite 1 von 2 ← → |
|
Das Grundgesetz definiert eine säkulare Ordnung, die dem Staat strikte religiös-weltanschauliche
Neutralität auferlegt und die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen formal gleichberechtigt. Religiöse Erziehung ist nicht Aufgabe des
Staates, sondern Sache der Eltern. Gleichwohl garantiert Artikel 7 GG Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“ an öffentlichen Schulen.
Dieser Unterricht soll „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ werden. Ein von den Kirchen verantworteter
Religionsunterricht ist als ideologisch gebundenes Fach nur bei gleichzeitig gewährleisteter Freiwilligkeit vertretbar. Daher haben die
Erziehungsberechtigten, bzw. nach Erreichen der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren die Schüler selbst, das Recht, „über die Teilnahme des
Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.“1 |
|
|
Im Nachklang der 68er-Studentenproteste verlor der Religionsunterricht zunehmend an Popularität.
Um der schleichenden Auszehrung des Faches durch steigende Abmeldezahlen entgegenzuwirken, führten immer mehr Bundesländer – jeweils auf Druck und
im Einvernehmen mit den beiden Großkirchen – das Ersatzfach2 „Ethik“ für Schüler ein,
die nicht am Religionsunterricht teilnehmen.3 Dieser Ersatzunterricht sollte potentiellen
„Religionsflüchtlingen“ den Plan durchkreuzen, sich durch die Abwahl von Religion den Stundenplan zu verkürzen. Allerdings wurde das neue Fach auch
für Andersgläubige und die wachsende Zahl konfessionsloser4 Schüler verpflichtend.
Dadurch werden Schüler, die von ihrem Recht, nicht am Religionsunterricht teilzunehmen, Gebrauch machen, unter Umständen erheblich belastet:
in manchen Fällen sind sehr junge Schüler bis zu 11 Stunden außer Haus, um am nachmittäglichen Ethikunterricht teilzunehmen.5
Auf diese Weise mutiert die staatliche Serviceleistung für die Mitglieder der Großkirchen zu einem Zwang für Andersdenkende. |
|
|
Indes wird zur Begründung des Ersatzfaches „Ethik“ auch geltend gemacht, gerade Schüler ohne
Religionsunterricht müßten ebenfalls eine Werteerziehung erhalten. Dies unterstellt, daß solche Schüler diesbezügliche Defizite aufwiesen, die
Schüler mit Religionsunterricht nicht hätten. Ohne einen entsprechenden Beleg, ist die Forderung einer „Nachhilfe in Moral“ jedoch diskriminierend.
Wenn der Staat Wert auf ethische Erziehung legt, müßte er ein solches Fach wie Ethik als Pflichtfach für alle Schüler anbieten, unabhängig davon,
ob ein Teil der Schüler außerdem das Angebot des freiwilligen Religionsunterrichts wahrnimmt. Ein solches Modell hat jüngst die SPD-PDS-Koalition
in Berlin vorgeschlagen.6 Das Ergebnis war eine gewaltige Welle des Protests7:
„Von einem Kirchenkampf in der Republik ist die Rede, von einem Rückfall in die religionsfeindliche DDR – sogar von einem ‚Heiligen Krieg‘.
Beide Kirchen scheuten selbst vor einem Nazi-Vergleich nicht zurück.“8 Als „Anschlag
auf die Bekenntnis- und Gewissensfreiheit” und als Versuch, den Religionsunterricht „faktisch zu ersetzen durch eine staatlich organisierte
Wertevermittlung” beurteilte der CDU-Abgeordnete Hermann Kues, Kirchenbeauftragter seiner Fraktion, das Vorhaben. „Lustig, wenn ausgerechnet ...
jetzt die Alarmglocke läutet, weil in der Schule von Werten die Rede sein soll. Wie hätte der Abgeordnete es denn gern? Wie stellt er sich den
Unterricht in Geschichte, Biologie und Politik vor? Wünscht er eine Sexualaufklärung ohne jeden Hinweis auf Verantwortung? Wertfreie Informationen
über Antisemitismus und Konzentrationslager? Ach nein, so hat Kues das gewiß nicht gemeint. Wie dann? Alles ist erlaubt, sogar geboten - nur kein
Pflichtfach, das Wertekunde heißt? Die Scheinheiligkeit der Argumentation ist kaum zu überbieten.“9 |
|
|
↑ |
1 |
Anfangs wurde der Charakter der Freiwilligkeit dadurch unterstrichen,
daß Religionsunterricht weder benotet wurde noch versetzungsrelevant war. Inzwischen gilt beides jedoch als Selbstverständlichkeit. |
|
2 |
Die Kirchen legen Wert auf die Sprachregelung Ersatzfach, nicht Alternativfach.
Ihrer Ansicht nach würde der Religionsunterricht sonst von seinem Status als Pflicht- zu einem Wahlpflichtfach abgewertet werden. |
|
3 |
Den Anfang machte 1972 Bayern. Mittlerweile ist „Ethik“ auch in Hessen,
Baden-Württemberg, Hamburg (Sekundarstufe I), Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen etabliert worden.
Niedersachsen nennt sein Ersatzfach „Werte und Normen“. In Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein
und Hamburg (Sekundarstufe II) ist das Fach „Philosophie“ vorgesehen. Brandenburg hat sich für „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER)
entschieden. |
|
4 |
Seit der Wiedervereinigung Deutschlands liegt der Anteil der konfessionell
ungebundenen Bevölkerung bei 30 %. |
|
5 |
Die umgekehrte Argumentation, durch die Wahl zwischen Religion oder Ethik
würden alle Schüler gerechterweise gleichmäßig belastetet, greift nicht, da sie übersieht, daß Religionsunterricht keine Pflicht, sondern
ein Recht ist. Niemand käme auf die Idee, von Schülern, die freiwillige Angebote ihrer Schule (z.B. Arbeitskreise, zusätzliche Oberstufenkurse)
nicht wahrnehmen, zum Ausgleich die Teilnahme an einem anderen Unterricht zu verlangen. |
|
6 |
Der Vorschlag stützt sich auf die „Bremer Klausel“, nach der Länder,
in denen es vor 1949 keinen konfessionellen Unterricht gab, entgegen der sonstigen Festlegung durch das Grundgesetz nicht verpflichtet seien,
Religion als ordentliches Fach einzurichten. |
|
7 |
Ähnlich vehement war der Widerstand als Brandenburg, dessen Schüler mehrheitlich
konfessionell ungebunden sind, das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (LER) einführte. Trotz des Protests der Kirchen und gegen die
Aufforderung des Bundestags wurde Religion in Brandenburg kein ordentliches Lehrfach, sondern zur freiwillig wählbaren Alternative „degradiert“.
Eine Klage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Kirchen sowie einiger Eltern und Schüler beantwortete das Bundesverfassungsgericht mit einem
Vermittlungsvorschlag (BVerfG, 1 BvF 1/96 vom 11.12.2001;
Pressemitteilung), der das Fach LER nicht in Frage stellte, aber
die Förderung des konfessionellen Religionsunterrichts empfahl. Obwohl die Kirchen den Religionsunterricht nicht als Wahlpflichtfach verankern
konnten, stimmten sie dem Vorschlag zu, denn ein zu befürchtendes negatives Grundsatzurteil hätte auch in anderen Bundesländern den konfessionellen
Religionsunterrichts in Frage stellen können. |
|
8 |
Florentine Anders, „Heiliger Krieg“ um den Berliner Werteunterricht.
In: Welt am Sonntag, 17.4.2005. |
|
9 |
Bettina Gaus, Vom Wert des Glaubens. In: taz, 15.4.2005. |
|
|
← ↑ → |
|