Das Thüringer Modell eines nicht-präventiven Ethikunterrichts
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Im Jahr 2004 veröffentlichte das Thüringer Kultusministerium eine „Anpassung der Lehrpläne
Ethik ... an den aktuellen Sachstand der Darstellung von neureligiösen Bewegungen“. Die dort vorgesehene Behandlung religiöser Minderheiten
kann als empfehlenswertes Modell gelten.
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Wie in vielen anderen Bundesländern waren neureligiöse Bewegungen in Thüringen in den 1999
eingeführten Ethik-Lehrplänen in den Kontext „Sekten, Okkultismus, Satanismus“ eingebunden. Das Thema sollte in der Jahrgangsstufe 7 in Rahmen
des Themenfelds „Erwachsen werden“ und damit verbundener „Gefahren“ behandelt werden. Unter Berufung auf „neuere soziologische, psychologische
und religionswissenschaftliche Forschungen, [den] Abschlußbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ... und aktuelle höchstrichterliche
Grundsatzentscheidungen zum öffentlichen Umgang mit religiösen Minderheiten“ wurde die entsprechende Lehrplanpassage mit der Neufassung von 2004
revidiert: |
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- Die Gegenstandsbereiche „neureligiöse Bewegungen“ und „okkulte Jugendkulturen“ wurden voneinander getrennt.
- Neue religiöse Bewegungen werden nunmehr „im Anschluß an ihre jeweilige Muttertradition behandelt“. Die Darstellung der Weltreligionen
„ist jeweils mit einem Zusatz versehen bei Bedarf auf mit der jeweiligen Religion verwandte Richtungen, Konfessionen und religiöse Neubildungen
einzugehen“. Die Anbindung an die Herkunftstradition „verhindert einerseits, daß religiöse Minderheiten pauschalisierend und damit unsachgemäß
behandelt werden, erlaubt aber andererseits eine fundierte Sachkritik an Lehren und Praktiken, wo sie begründet und notwendig ist“. Außerdem
kann diese Zuordnung Verständnis für „die Normalität der Religionsgeschichte, zu der immer schon die Weiterentwicklung von Lehren und Praktiken
sowie die Neugründung religiöser Gemeinschaften zählte“, wecken.
- Das Schwerpunktthema „Erwachsen werden“ in Klassenstufe 7 wird durch den neuen Aspekt „Jugendkulturen“ ergänzt, der auch „okkulte und
esoterische Praktiken“ umfaßt. Dadurch ist es möglich, „die Erscheinungsformen und Gefahren des Satanismus kontextorientiert und damit
differenzierter zu behandeln“.
- Der Inhaltsschwerpunkt „Vorurteile und ihre Funktionen“ in Jahrgangsstufe 8 berücksichtigt nunmehr die Tatsache, daß „neben ethnischen
und kulturellen auch religiöse Minderheiten zu Opfern pejorativer Auffassungen werden können, und daß die pädagogische Forderung, Minoritäten
tolerant zu begegnen, selbstverständlich auch für diese gelten muß“.
- Um auch die Gefährdung durch extremistische Gruppierungen religiösen Ursprungs zu berücksichtigen, wird diese im 7. Jahrgang unter dem
Stichwort „Gruppenzwänge“ eigens thematisiert. Zusätzlich sollen im Jahrgang 10 der Regelschule unter dem Stichwort „Glücksverheißungen“ die
Sinnangebote verschiedener religiöser Bewegungen hinterfragt werden. „Diese Neugewichtung ermöglicht eine differenzierte Auseinandersetzung
mit problematischen Aspekten neureligiöser Bewegungen, ohne der Gefahr ihrer pauschalen Verurteilung zu erliegen.“
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Die Revision des Thüringer Ethik-Lehrplans ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Angesichts des Befundes, daß die untersuchten Curricula die Zugehörigkeit zu „Sekten“ immer noch mehrheitlich als gefährlich oder pathologisch
beschreiben und die inhaltlichen Konkretisierungen nur selten wissenschaftliche Forschungsergebnisse sondern überwiegend widerlegte Vorurteile
reflektieren, kann der Thüringer Lehrplan als Modell einer gelungenen Abkehr von der pauschalisierenden Prävention gelten, das gleichzeitig
problematische Aspekte neuer Religiosität nicht ausspart. Eine entsprechende Überarbeitung oder Neugestaltung der Lehrpläne anderer Bundesländer
ist dringend angezeigt. Bei einer solchen Revision sollten auch die betroffenen Gemeinschaften einbezogen werden. |
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