Untersuchungsansatz |
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Da ein Schulbuch „Politicum, Informatorium und Paedagogicum“ zugleich ist, läßt sich
Schulbuchforschung nicht nur als reine Inhaltsanalyse betreiben. Sie wird vielmehr „multiperspektivisch verfahren, d.h. als erziehungs-,
fach- und politikwissenschaftliche Schulbucharbeit betrieben werden müssen“.1
Der hier gewählte Ansatz enthält daher 1) Elemente produktorientierter Schulbuchforschung, die das Schulbuch als Unterrichtsmedium und
Mittel der Kommunikation sieht und sich vornehmlich inhaltsanalytischer Verfahren2
bedient, und 2) Elemente wirkungsorientierter Schulbuchforschung, in der das Schulbuch als Sozialisationsfaktor des Unterrichts im Hinblick
auf seine Wirkung auf Lehrer und Schüler betrachtet wird.3 Er enthält 3) auch
ideologiekritische Elemente, um Schulbuchtexte auf Klischeevorstellungen, Vorurteile, Verzerrungen, ausgesprochene und unausgesprochene
Interessen usw. zu untersuchen. „Unter den theologischen Inhalten muß sinnvollerweise die Vorurteilsproblematik stets im Zentrum des
Interesses stehen.“4
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Ein methodisches Problem besteht dabei in einem
hermeneutischen Zirkel bei der Bestimmung der eigenen Maßstäbe: Wenn nach wissenschaftlichem und didaktischem Vorverständnis bestimmte
Kategorien ausgewählt werden, die dann der Analyse zugrunde gelegt und wiederum auf der Folie dieses Hintergrundverständnisses interpretiert
und bewertet werden, kann die die Untersuchung selbst in den Verdacht geraten, ideologisch zu sein, also bestimmte Interessen zu
vertreten.5 Daher müssen die Maßstäbe der Bewertung zunächst offengelegt werden.
Die nachfolgende Liste von Kategorien soll diese Forderung erfüllen. Die zu jeder Kategorie aufgeführten Fragen bilden den geistigen
Horizont, vor dem das Material untersucht wird, ohne daß jeweils jede einzelne Frage explizit beantwortet würde.6
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1. Kategorie: Didaktische Tendenz
Hier geht es um die Analyse der erkenntnisleitenden Interessen des betreffenden Schulbuchkapitels. Dabei werden (wie im Folgenden stets) die
in den (evt. vorhandenen) Lehrerbänden genannten Zielvorstellungen, unterrichtsmethodischen Hinweise, Zusatzinformationen usw. und ihr Vergleich
mit den Schulbuchtexten berücksichtigt. Hier zeigt sich mitunter eine nicht unerhebliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit:
hochgesteckte Ziele (Toleranz, Begegnung, Verständnisbereitschaft usw.) sollen mit Material realisiert werden, das teilweise „alte Vorurteile
noch verstärkt, sie zumindest aber nicht verringert“.7
Handelt es sich bei der Behandlung religiöser Minderheiten um eine eigenständige oder eher beiläufige Thematisierung? In welchen sachlichen
Bezugsrahmen werden religiöse Minderheiten gestellt (z.B. thematischer Zusammenhang, Überschrift der Lerneinheit)? Welche Erkenntnisinteressen
werden explizit oder implizit ausgewiesen? Wird die Frage nach den erkenntnisleitenden Interessen im Schulbuch thematisiert? Welche Ziele
verfolgt die Einheit? Welche Lernzieldimensionen werden angesprochen (kognitive/affektive/pragmatische)? Sind die Lernziele in weiterreichende
Ziele des Unterrichts eingebettet?
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2. Kategorie: Bezeichnungen und Begriffe
Es wird der Gebrauch von Bezeichnungen für religiöse Minderheiten und von Begriffen, die von den Gemeinschaften
stammen, untersucht.
Werden neutrale oder stigmatisierende Bezeichnungen verwendet. Wird die Problematik stigmatisierender Bezeichnungen
thematisiert? Werden Begriffe aus dem Bereich religiöser Minderheiten korrekt definiert und verwendet?
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3. Kategorie: Fachwissenschaft
Fachwissenschaftlich korrekte Informationen ziehen zwar nicht automatisch die Veränderung von Einstellungen
und Vorurteilen nach sich, sind aber eine dafür notwendige Bedingung. Mindestens drei Bedingungen müssen daher erfüllt sein:
Entsprechen die Inhalte dem Erfordernis sachlicher Richtigkeit, d.h. sind die Aussagen wissenschaftlich belegt?
Spiegeln die Schulbücher den aktuellen Diskussionsstand und die paradigmatische Struktur sowie den Paradigmenwechsel der Bezugsdisziplinen?
Stellen sie die charakteristischen wissenschaftlichen und politischen Kontroversen adäquat dar?
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4. Kategorie: Selbstverständnis religiöser Minderheiten
Wichtig ist hier das in den Schulbüchern präsentierte Bild religiöser Minderheiten. Dabei sollten angemessene
Kenntnisse vermittelt werden, die helfen neue Religiosität zu verstehen. Keinesfalls dürfen falsche, klischeehafte oder verzerrte Vorstellungen
weitergegeben werden, die einem toleranten Verhalten gegenüber den Anhängern solcher Minoritäten entgegenwirken.
Welche Glaubensgemeinschaften werden behandelt, welche nur erwähnt? Nehmen die Schulbücher das religiöse
Selbstverständnis8 der Minderheiten ernst? Gelingt es ihnen, Zentrales von mehr
Peripherem zu unterscheiden, um den Schülern das Fundamentale einer religiösen Minderheit zu erschließen? Werden die religiösen Wurzeln
einer Glaubensgemeinschaft berücksichtigt? Enthält die Darstellung Aspekte, die das Selbstverständnis religiöser Minderheiten verletzen?
Wird die Pluralität des Phänomens berücksichtigt, oder erscheinen religiöse Minderheiten insgesamt als eine statische Einheit? Werden
vorgefundene Sachverhalte in unzulässiger Weise verallgemeinert? Wird die Divergenz zwischen normativer und gelebter Religion berücksichtigt?
Aufgrund der vielzahl der Gemeinschaften können diese Aspekte nicht für alle in einem Schulbuch besprochenen
Gruppen gleichermaßen ausführlich berücksichtigt werden. Daher soll bevorzugt auf die Darstellung größerer Gemeinschaften, wie etwa der
Zeugen Jehovas, eingegangen werden, da bei diesen die Wahrscheinlichkeit höher ist, daß Schüler, die anhand der untersuchten Schulbücher
unterrichtet wurden, Mitgliedern dieser Gemeinschaften, auch in der eigenen Klasse, begegnen.
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5. Kategorie: Kirchen – religiöse Minderheiten
Manche Schulbücher setzen kirchliche Inhalte in Beziehung zu denen anderer Glaubensgemeinschaften. Solche
Vergleiche werden aber manchmal unreflektiert und naiv durchgeführt oder sollen, offen oder verdeckt, die Höherwertigkeit der Kirchen
gegenüber den Minoritäten belegen.
Wird der Anschein geweckt, daß kirchliche Theologie „objektiv“ besser ist als andere Theologien und deren
Wahrheitsansprüche? Welche Vergleichspunkte mit den Kirchen werden gewählt? Werden Kirchen und religiöse Minderheiten auf der Grundlage
gleicher Dimensionen verglichen (z.B. Lehre mit Lehre, Praxis mit Praxis)? Werden kirchliche Begriffe (wie z.B. Gott, Gebet, ...) unreflektiert
auf religiöse Minderheiten angewandt? Werden partikulare Interessen als Gesamtinteressen ausgegeben?
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6. Kategorie: Urteilsstrukturen
Hier wird untersucht, inwieweit in den Ausführungen bewußte oder unbewußte Falschurteile, persönliche
Werturteile und vorschnelle Verallgemeinerungen eine Rolle spielen.
Werden Vorurteile, Klischees und Stereotypen aufgegriffen und bewußtgemacht oder weitertradiert? Ist
die Sprache eher sachlich und informativ oder tendenziös und persuasiv? Wird durch die Verwendung von indirekter Rede, Konjunktiv und
anderen Sprachmitteln indirekt zum Ausdruck gebracht, daß man Glaubensinhalte religiöser Minderheiten für fragwürdig hält? Sind
Bekenntnisformulierungen erkennbar oder verdeckt vorhanden? Ist eine Vermischung von Information und Interpretation feststellbar?
Sind Interpretationen durch einen konstatierenden Sprachstil verschleiert? Werden falsche oder einseitig kausale Beziehungen
hergestellt? Werden Voraussetzungen, aus denen Schlüsse gezogen werden, unrichtig oder unvollständig dargestellt?
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7. Kategorie: Medien, Quellen
Bei der Auswahl von Medien und Quellen sind subjektive Kriterien und Akzentsetzungen unvermeidbar.
Textzusammenstellungen sind Interpretationen und durch die Art der Bearbeitung (Kürzung, Einleitungen, Fragestellungen, neue
Überschriften usw.) sowie die mediale Umgebung kann eine bestimmte Rezeptionshaltung bewirkt und eine Verstehensrichtung vorgegeben werden.
Welche Quellen und Medien kommen zum Einsatz? Wie werden die verschiedenen Medien eingesetzt:
heuristisch/illustrativ/provokativ? Kommen Originaltexte religiöser Minderheiten zum Einsatz? Wird die Aussagekraft sogenannter
Aussteigerberichte problematisiert? Sind die Quellentexte repräsentativ oder handelt es sich um Einzelstimmen?
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8. Kategorie: Wirkungen
Es wäre naiv, von den Inhalten auf eindeutige Wirkungen bei Schülern oder Lehrern schließen zu wollen.
Dennoch läßt sich insbesondere aus der Art und Weise, wie das Prinzip der Schülerorientierung umgesetzt wird, auf mögliche bzw erwünschte
Wirkungen schließen.
Ist die Darstellung der Themen im Schulbuch der Verständnisebene des Schülers angemessen? Findet sich der
Schüler als Jugendlicher in den für ihn typischen Situationen und Interes-senlagen wieder? Werden Schüler darin unterstützt, das ihnen
begegnende Fremde vorurteilsfrei wahrzunehmen? Kann der Schüler ein empathisches Verständnis für Anhänger religiöser Minderheiten
entwickeln? Wie wirkt das Schulbuch im Kontext anderer Medien (korrigierend, verstärkend, kompensierend)? Welche normativen
Orientierungen werden dem Schüler durch das Schulbuch vermittelt? Welche konkreten Handlungsanweisungen und Verhaltensregeln
werden für bestimmte Lebenssituationen und Ereignisse gegeben?
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1 |
Udo Tworuschka, Analyse der evangelischen Religionsbücher zum Thema
Islam. In:Falaturi, S. 9. |
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2 |
Dabei wird allerdings auf quantitative Auswertemethoden verzichtet.
Dieterich warnt jedoch ohnehin „vor einer Überbetonung der quantitativen Methode, welche ohne inhaltlich abgedecktes Interesse Daten
aneinanderreiht“ (Dieterich, S. 152.). |
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3 |
Peter Weinbrenner, Grundlagen und Methodenprobleme sozialwissenschaftlicher
Schulbuchforschung. In: Olechowski, S. 22f. |
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4 |
Dieterich, S. 152. |
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5 |
Weinbrenner, a.a.O., S. 39. |
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6 |
Die Kategorien wurden unter Zuhilfenahme der Beschreibung des methodischen
Vorgehens Udo Tworuschkas (a.a.O., S. 8-24), die Fragen in Anlehnung an den in dieser Arbeit benutzten
Fragenkatalog zusammengestellt und im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand modifiziert. |
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7 |
Udo Tworuschka, a.a.O., S. 16.
Methodisch geht die Einbeziehung von Lehrerbänden über die eigentliche Schulbuchanalyse hinaus, „weil unklar ist, ob und in welchem
Ausmaß die zusätzlichen Informationen für den Schüler überhaupt wirksam werden“. Zur Verdeutlichung der im Text genannten Zusammenhänge
wird jedoch hier mit Tworuschka für die Einbeziehung von Lehrerbänden plädiert. |
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8 |
Die Formel vom „Selbstverständnis“ ist jedoch nicht ganz unproblematisch,
denn es darf nicht verabsolutiert werden und einziger Gesichtspunkt der Kritik sein. Zumindest sollte es dem Schulbuchautor aber bekannt sein.
Auch wenn dieser beispielsweise nicht an die Offenbarung einer neuen religiösen Bewegung „glaubt“, so sollte er sich wenigstens bemühen,
die betreffende Auffassung auf eine neutrale Weise darzustellen. |
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