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Militzke – Ich und die Werte

Helge Eisenschmidt, Dominik Fehrmann, Jana Paßler1, Irmtraud Schmidt-Rusnak, hg. von Helge Eisenschmidt
Ich und die Werte, Werte und Normen, Klassen 7/8, Leipzig 2004.
 
Typ Lehrbuch Werte und Normen Jahrgangsstufen 7/8  
Thematische Einbettung 6. von 8 Hauptkapiteln: Alternative religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften (24 Seiten = 10,4%)
4 Kapitel:
− Ein Labyrinth der Verheißungen (2 Seiten)
− Neue Wege zum Seelenheil? (10 Seiten)
− Im Netz der Versprechungen (8 Seiten)
− Okkultismus und Esoterik: Ein bißchen Pendeln schadet doch nicht? (4 Seiten)
 
Bezeichnungen, Definitionen Sekte: (von lat. sequi) ursprünglich Abspaltung von größerer Religionsgemeinschaft, nicht identisch mit neuen religiösen oder weltanschaulichen Bewegungen  
Gemeinschaften Nennung: Zeugen Jehovas, Scientology Church, Kinder Gottes, Osho, Vereinigungskirche, ZEGG, Mormonen, Ananda Marga, Hare-Krishna, Bahai, Landmark Education, Sonnentempler, Aum, Transzendentale Meditation, Neuapostolische Kirche, Christengemeinschaft, Aum Shinri Kyo
Darstellung: Zeugen Jehovas (2 Seiten), ISKCON (1,5 Seiten), Osho-Bewegung (2 Seiten), Scientology Church (2 Seiten), Vereinigungskirche (2 Seiten), Sri Chinmoy (1 Seite)
 
Quellen der Gemeinschaften Kurze Auszüge aus Schriften der Gemeinschaften (Zeugen Jehovas, Hare-Krishna, Osho-Bewegung), Interview mit Bhagwan-Anhänger, Flugblatt Scientology  
 

Trotz des neutralen Titels „Alternative religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften“ folgt das Kapitel eher einem präventiven Ansatz. Dies zeichnet sich bereits an den Überschriften der Unterkapitel ab: „Ein Labyrinth der Verheißungen“ suggeriert die Möglichkeit sich zu verirren, ohne einen Ausweg zu finden. Auch das „?“ am Ende des Titels „Neue Wege zum Seelenheil?“ stellt diese Wege von Anfang an in Frage und diskreditiert sie als fragwürdig.

 

Inhaltlich schwankt das Kapitel zunächst zwischen einem neutralen und einem pejorativen Stil. So wird ein recht gelungener „Versuch einer Definition“ des Begriffs „Sekten“ neben eine der üblichen verallgemeinernden Sektenchecklisten („Wie man sie erkennt“, Stern Extra Nr.7/1996), gestellt. Dies führt zu nicht auflösbaren Widersprüchen: Während die Autorendefinition den Begriff „Sekte“ als „sehr ungenau“ bezeichnet und das Bemühen beschreibt, „neue Bezeichnungen“ zu finden, „weil das Wort ‚Sekte‘ oft falsch verstanden wird“, konstatiert die Checkliste: „Keine Sekte nennt sich selbst Sekte. Sie tarnen sich mit neutralen Namen wie Kirche, Gesellschaft, Bewegung oder Gemeinde.“

 

Entsprechend der Klassifizierung der Autorendefinition enthält das Kapitel „Neue Wege zum Seelenheil?“ vier Unterkapitel, in denen getrennt nach ihren Herkunftstraditionen „Gemeinschaften christlicher Herkunft“ (Jehovas Zeugen), „Gemeinschaften indischer und hinduistischer Herkunft“ (ISKCON, Transzendentale Meditation), „Psychogruppen“ (Osho-Bewegung, Scientology Church) und „synkretistische Neureligionen“ (Vereinigungskirche) behandelt werden.

 

„Gemeinschaften christlicher Herkunft“ werden folgendermaßen beschrieben: „Klassische Sekten sind Gruppen, deren Wurzeln zwar auf das Christentum zurückgehen, die aber im Unterschied zu den christlichen Kirchen das christliche Glaubensbekenntnis und die christliche Taufe nicht anerkennen. Damit haben sie sich von den christlichen Kirchen getrennt und werden als Sekten bezeichnet. Sie nehmen für sich in Anspruch, allein den wahren Glauben zu haben. Dazu gehören u. a. die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche und die Christengemeinschaft.“ Da es kein allgemein gültiges christliches Glaubensbekenntnis gibt und die angesprochenen Gemeinschaften alle die Taufe praktizieren, kann sich die monierte Nicht-Anerkennung nur auf die von den Großkirchen gelehrte Form des Glaubensbekenntnisses bzw. der (Kinder-)Taufe beziehen. Dies zeigt, daß der Autor keinen neutralen Standpunkt vertritt, sondern den der Kirchen als maßgeblich betrachtet.

 

Als einzige Gemeinschaft „christlicher Herkunft“ werden Jehovas Zeugen ausführlicher dargestellt. Allerdings kann den Schülern kaum deren religiöses Selbstverständnis deutlich werden, denn die Ausführungen legen ein übergroßes Gewicht auf die vermeintlich „strengen Regeln“, nach denen die Zeugen Jehovas angeblich leben. Die Aussage „Wöchentlich sind fünf Zusammenkünfte vorgeschrieben“ erweckt den falschen Eindruck, die Gläubigen müßten sich an fünf Tagen in der Woche versammeln. Die Behauptung „Die Teilnahme an politischen oder kulturellen Veranstaltungen wird abgelehnt“ ist schlichtweg falsch. Schließlich wird ein längerer Auszug aus dem wenig fundierten Buch „Die Sektenkinder“ von Kurt-Helmuth Eimuth2 abgedruckt, der unter der Überschrift „Kein Weihnachten, kein Ostern und kein Geburtstag“ das „Verbot“ der Teilnahme an solchen Festen als „wesentlich“ bezeichnet. „Ein Kind der Zeugen Jehovas ist permanent [ständig] ausgeschlossen. Es erlebt permanent sein Anderssein.“ Diese Behauptung träfe natürlich auch auf z.B. jüdische oder muslimische Kinder zu, die ebenfalls kein Weihnachten feiern. Da jede Religion ihre eigenen Festzeiten kennt und pflegt, überrascht es, daß in einem Lehrbuch für das neutral zu unterrichtende Fach „Werte und Normen“ dem kirchlichen Festkalender eine solche übertriebene Bedeutung beigemessen wird. Wenn die Schule ihren Auftrag, Kinder jeder religiösen Herkunft zu integrieren, ernst nimmt, dann wird weder ein muslimischer Schüler noch ein Kind von Zeugen Jehovas „permanent sein Anderssein“ erleben oder „ausgeschlossen“ sein.

 

Das Kapitel „Im Netz der Versprechungen“ thematisiert in präventiver Absicht den „Einstieg in die Gruppe“ und den „Ausstieg aus der Gruppe“, denn „Informationen über gefährliche, neue religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften reichen oft nicht aus, um sie zu erkennen und sich vor ihnen zu schützen“. Den Schülern wird u. a. eine 15 Punkte umfassende Liste mit dem Titel vorgelegt „Wie anfällig bist du? Teste dich selbst.“ Einer der zugehörigen Arbeitsaufträge disqualifiziert die Sinnangebote religiöser Minderheiten als falsche Versprechungen. Danach werden in einigen fiktiven Erzählungen Methoden vorgestellt, wie neue Mitglieder geworben würden. Dabei kommt erneut das veraltete passive Konversionsmodell zum Tragen: „Jede neue religiöse oder ideologische Gruppierung hat eigene Methoden, um neue Mitglieder anzuwerben. Oft merkt es der Angesprochene nicht einmal, daß er das Ziel einer solchen Anwerbung ist.“ Überdies handeln alle Erzählungen von Jugendlichen und legen damit fälschlich nahe, die betreffenden Gemeinschaften würden insbesondere junge Menschen anwerben. Um die drohende Gefahr zu unterstreichen wird im Anschluß der Text „Für den Guru in den Tod“ abgedruckt, der von Leben und Selbstmord eines Anhängers von Sri Chinmoy handelt.

 

Unmittelbar daran schließt sich eine „Argumentationshilfe“ zu der Frage an „Soll man gefährliche religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften per Gesetz verbieten?“ Die Schüler sollen zunächst eine „Situationsanalyse“ vornehmen, zu der sie folgenden Hinweis erhalten: „In Deutschland gibt es mehrere Hundert religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften, ein Großteil davon sind so genannte „Sekten“, die wirtschaftliche oder politische Interessen verfolgen und ihre Mitglieder vereinnahmen“. Dies widerspricht der vorherigen neutralen Definition des Sektenbegriffs und entspricht auch inhaltlich nicht den Tatsachen. Zur „Berücksichtigung von Handlungsalternativen“ wird ausgeführt: „Die Menschen werden vor neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die für ihre Mitglieder oder die Gesellschaft gefährlich sein können, gewarnt; solche Gemeinschaften werden verboten; viele Gemeinschaften, die unbedenklich sind, würden dann aber ebenfalls verboten, weil es nicht möglich ist, eine genaue Un-terscheidung zu treffen; usw.“ Schließlich werden die Schüler zu einer „Normenanalyse“ aufgefordert. Dabei sei zu bedenken: „Nicht jede neue religiöse und weltanschauliche Gruppe ist gefährlich; im Grundgesetz ... wird jedem Menschen die freie Ausübung seines Glaubens garantiert; die Menschen müssen ihre Persönlichkeit frei entfalten können. Der Staat muß seine Bürger vor geistigem, wirtschaftlichem und sozialem Mißbrauch schützen; die Gesetze müssen klar ausdrücken, welche Gemeinschaften ungefährlich sind und welche nicht; usw.“ Zwar ist es eine anerkennenswerte Absicht, mit den Schülern über das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf freie Religionsausübung zu diskutieren. Die den Schülern abverlangte „Abwägung und Entscheidung“ scheint aber angesichts der vorherigen Selbstmordgeschichte vorgezeichnet zu sein. Im übrigen ist es ein sehr zweifelhafter Ansatz, dem Staat die Beurteilung religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften übertragen zu wollen. Unbeachtet bleibt außerdem, daß es zur Verhinderung von Straftaten keiner weiteren Gesetze bedarf, da sich natürlich auch religiöse Gemeinschaften der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterordnen und sich bei nachgewiesenem Fehlverhalten auf Basis der bestehenden Gesetze verantworten müssen.

 

Das Kapitel schließt mit Hinweisen für Freunde von Mitgliedern. Zunächst werden vermeintliche Verhaltensveränderungen („Woran merke ich, daß jemand gefährdet ist“) beschrieben, danach Hinweise gegeben, wie den Mitgliedern „einer fragwürdigen Gemeinschaft“ geholfen werden kann („Ausstiegshilfen für Mitglieder“). Als professionelle Helfer werden staatliche und kirchliche Beratungsstellen, Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen empfohlen. Der abschließende Arbeitsauftrag fordert die Schüler auf, diesbezügliche Kontakte herzustellen: „Informiert euch über Beratungsstellen in eurer Nähe. Notiert euch die Adressen und Telefonnummern. Habt ihr noch Fragen? Dann setzt euch mit einer dieser Beratungsstellen in Verbindung. Ihr könnt auch einen Spezialisten in eure Klasse einladen.“

 
 

1

Autorin des besprochenen Kapitels.

2

Eimuth. Der Autor war bis 2001 Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Kirche Frankfurts. Zu einer Einschätzung von „Die Sekten-Kinder“ vgl. Krenzer, S. 45ff und auf dieser Website (geplant).

 

   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer