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Grundsätze staatlicher "Aufklärung" über religiöse Minderheiten

Die vom Grundgesetz geregelte säkulare Ordnung verpflichtet den deutschen Staat zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität. Die Verfassung garantiert die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Art. 4 Abs. 1) und verbietet, jemanden wegen „seines Glaubens, seiner religiösen [...] Anschauungen“ zu benachteiligen oder zu bevorzugen (Art. 3 Abs. 3).1 Über die reine Neutralität hinaus fordert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen2, dass Bildung „zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen“ muss (Art. 26 Abs. 2).

 

Tatsächlich ist die staatliche Neutralität in religiösen Dingen jedoch nur in begrenztem Maße verwirklicht. Die beiden großen Kirchen nehmen erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben und verfügen über ein hohes Maß an politischer Macht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich bei der Sorge über zunehmenden Mitgliederschwund der missbilligende Blick nicht nur der Kirchen, sondern auch des Staates auf die religiösen „Konkurrenten“ richtet: auf kleinere Glaubensgemeinschaften mit häufig relativ stabilem oder sogar steigendem Mitgliederbestand. Den kleineren Glaubensgemeinschaften wird pauschal unterstellt, sie seien gefährlich und missbrauchten die Religion zu anderen, vielleicht kommerziellen oder sogar kriminellen Zwecken. „Diese Verwirrung erzeugt ein Klima des Argwohns und der manifesten oder latenten Intoleranz in der Gesellschaft.“3 Anstatt religiöse Minderheiten als soziale Bereicherung zu betrachten, wurden sie zu sozialen Problemen und zur Zielscheibe von „moral panics“ gemacht4.

 

Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung entschloss sich der Deutsche Bundestag 1996 zur Einrichtung der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“.5 Der im Juni 1998 vorgelegte Endbericht bewertet keine der 600 in Deutschland tätigen Gruppen. Weil die der Kommission vorgelegten wissenschaftlichen Gutachten und Forschungsberichte übereinstimmend zu dem Ergebnis kamen, die vermeintlichen Gefahren bestünden in Wirklichkeit gar nicht, statuiert der Bericht: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr dar für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche.“6 Wegen der „Unschärfe und Mißverständlichkeit“ des Begriffs „Sekte“ empfiehlt die Kommission, auf die weitere Verwendung dieses Begriffs zu verzichten. Insbesondere für den staatlichen Gebrauch – etwa in Aufklärungsbroschüren, Urteilen oder Gesetzestexten – sei er nicht geeignet7. Angesichts der Feststellung, dass die Bevölkerung neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen „als sehr bedrohlich“8 wahrnehme, wäre nun eigentlich eine deutliche Entwarnung erforderlich gewesen – sie hätte in der Folge Gelegenheit zur Aufklärung der Bevölkerung geboten. Statt dessen enthält der Endbericht jedoch eine Reihe von Empfehlungen für legislatives und exekutives Handeln. Maßnahmen gegen Gefahren zu fordern, die nach eigenem Bekunden gar nicht existieren, erweckt – auch angesichts der ursprünglichen Weigerung, die entlastenden Gutachten zu veröffentlichen – den Eindruck, die Enquete-Kommission sei von den Forschungsergebnissen, die ihren eigenen Vorurteilen widersprachen, derart überrascht worden, dass sie sich entschlossen habe, diese einfach zu ignorieren9.

 

Wenn trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse an überkommenen Vorwürfen festgehalten wird, dann geschieht dies offensichtlich aus strategischen Gründen einer Argumentationslinie, die der staatlichen Kontrolle religiöser Minderheiten das Wort redet. Soll der Staat vor dem Eintritt warnen, den Verlauf der Mitgliedschaft kontrollieren und den Austritt fördern, so muss es dafür triftige Gründe geben. Wenn an staatlichen Schulen oder durch staatliche Schriften darauf hingewirkt wird, die religiöse Wahl in eine bestimmte Richtung zu lenken, so läuft das dem Grundgesetz zuwider. Jeder Eingriff in die Rechte einer Religionsgemeinschaft erfordert eine mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgrundlage und verlangt eine Rechtfertigung dafür, warum der Eingriff (beispielsweise durch eine Wertung) gerade der betroffenen Gruppierung gegenüber erfolgt und gegenüber anderen unterbleibt. Wenn jedoch der Beitritt zu einer religiösen Minderheit z. B. wegen „psychischer Destabilisierung“ nicht auf einer freien Entscheidung beruht, lässt sich ein staatlicher Anspruch, auf die individuelle Entscheidung Einfluss zu nehmen und die Individuen dadurch vor Unfreiheit zu schützen, rechtfertigen. „Der Reiz dieser Argumentation besteht darin, daß sie staatliche Intervention nicht nur legitimiert, sondern geradezu gebietet. [...] Die Fiktion, bei den Mitgliedern [...] handele es sich um ihrer Willensfreiheit beraubte ‚Opfer‘ von Seelenfängern, widerspricht jedoch nicht nur den empirischen Erkenntnissen. Sie verletzt auch die Würde dieser Menschen, indem sie als unfähig zur selbstverantwortlichen Lebensführung angesehen werden. Sie als ‚Opfer‘ psychischer Manipulationen zu bezeichnen bedeutet eine Abwertung ihrer freien religiösen Entscheidung.“10

 

Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass der Enquete-Bericht durchaus auf die Gefahren hinweist, die von undifferenzierten staatlichen „Aufklärungsschriften“ ausgehen. Bei Sammelberichten „ergeben sich immer Ausstrahlungseffekte von problematischeren Gruppen auf die anderen. Tendenziell trifft so die Ausstrahlung der momentan ‚gefährlichsten‘ Gruppe alle anderen ebenso. Weiterhin ergeben sich Akkumulationseffekte dadurch, dass die problematischen Merkmale sich von einer referierten Gruppe zur nächsten ansammeln, so dass sich für die Leserinnen und Leser solcher Broschüren am Ende unzutreffende Gesamtbilder ergeben können.“ Ferner bestehe die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung. „Es werden dann entweder die konfliktträchtigsten und organisatorisch entwickeltsten Gruppen zum Modell und Paradigma gemacht oder konfliktträchtige Merkmale in Strukturen, Aktivitäten und Zielen additiv beschrieben und dabei der Eindruck erweckt, die so erzielte Summe von Negativmerkmalen treffe alle Gruppen und alle in gleicher Weise. ‚Die Sekten‘ sind dann unterschiedslos ‚totalitär‘, ‚rigide hierarchisch‘ etc. organisiert, betreiben ‚aggressive Werbung‘ oder ‚Mission‘.“ Der Endbericht empfiehlt daher, in der staatlichen Aufklärung auf Sammelberichte zu verzichten und statt dessen nur Einzelbeschreibungen von solchen Gruppen zu erstellen, zu denen aktuell Informations- bzw. Aufklärungsbedarf bestehe. Diese Einzelbeschreibungen sollten im Kern Konfliktberichte sein und müssten regelmäßig aktualisiert werden11.

 

Im Hinblick auf staatliche Warnungen vor „Sekten“ gilt generell, dass wegen der mit einer solchen Warnung verbundenen Staatsautorität schwerwiegende Auswirkungen für die betroffene Gruppierung zu erwarten sind. Der Staat muss daher die Gebote der Verhältnismäßigkeit und Sachlichkeit beachten und sich insbesondere unnötiger Abwertungen enthalten. Staatliche "Aufklärungsschriften" müssen daher folgende Mindestanforderungen erfüllen:

  • Der Staat ist nicht befugt, religiöse Inhalte einzelner Gruppierungen in irgendeiner Weise zu bewerten, religiöse Inhalte als „gut“ oder „böse“ bzw. als „nützlich“ oder „schädlich“, als „wünschenswert“ oder „unerwünscht“ bzw. als „problematisch“ oder „unproblematisch“ einzustufen.
  • Erdarf keine Hierarchisierung von Religionen vornehmen und damit eine Rangfolge aufstellen, welche Religion als höherwertig einzustufen sei.
  • Erdarf nicht in die Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger eingreifen, weil er eine bestimmte religiöse Überzeugung für nicht förderlich hält.
 

Leider zeigen die nachfolgend besprochenen Beispiele, wie wenig staatliche „Aufklärung“ derzeit diesem Anspruch gerecht wird. An dieser Stelle genüge der Hinweis, dass die staatlichen und privaten Warnungen vor religiösen Minderheiten nach wie vor Bedrohungsvorstellungen transportieren, von denen die Enquete-Kommission selbst festgestellt hat, dass sie sachlich unbegründet sind12

 
 

1

Siehe auch: GG Art. 33 Abs. 3: „Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

2

Resolution 217 A (III) vom 10. 12. 1948.

3

Bericht von A. Amor, Special Rapporteur of the Commission on Human Rights on the Question of Religious Intolerance, nach seinem Besuch in Deutschland, E/CN.4/1998/6/Add.2, 49. Original: „Total confusion in which all groups and communities in the field of religion and belief are generally considered to be dangerous and using religion for other ends, whether financial or criminal. This confusion generates a climate of suspicion or even manifest or latent intolerance within society”.

4

Massimo Introvigne, Religiöse Minderheiten und „moral panics“. In: Besier, Scheuch, Bd. 1, S. 83. Unter „moral panics“ versteht man „gesellschaftlich konstruierte Probleme, die in der Darstellung der Medien und in der Behandlung durch die Politik Reaktionen auslösen, die in keinem Verhältnis zu einer tatsächlichen Gefahr stehen“ (S. 79).

5

Auch andere europäische Staaten richteten parlamentarische Kommissionen ein, um die Aktivitäten religiöser Minderheiten zu untersuchen: u. a. Belgien, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz und Österreich. Der 1996 in Frankreich veröffentlichte Guyard-Bericht listete 172 religiöse Gruppen auf, die als gefährlich oder destruktiv eingestuft wurden. Der belgische Bericht, der 1997 veröffentlicht wurde, übernahm diese Liste. Eine ausführliche Beurteilung der Entstehungsgeschichte und der Ergebnisse des Guyard-Berichts nimmt Introvigne vor. Die Kritik am Guyard-Bericht richtet sich vor allem dagegen, dass er nur die Berichte von als „Opfer“ bezeichneten „Apostaten“ zugrunde legt, die Ergebnisse soziologischer Forschung dagegen ignoriert, die längst die angeblichen Gräueltaten entmythologisiert hat. Trotz erheblicher Mängel zeigte der Bericht beträchtliche Wirkung. Human Rights Without Frontiers (HRWF) berichtete, seit seiner Veröffentlichung würden Kinder in der Schule und Erwachsene in der Nachbarschaft als Mitglieder eines Kults stigmatisiert (vgl. Wah, S. 590ff). Lehrer an öffentlichen Schulen Frankreichs wurden nach jahrelanger zuverlässiger Arbeit entlassen, nur weil sie Zeugen Jehovas sind (vgl. Erwachet!, 8. 7. 1998, Selters 1998, S. 28.

6

Endbericht Sekten-Enquete, S. 149.

7

Endbericht Sekten-Enquete, S. 19, 154.

8

Endbericht Sekten-Enquete, S. 24.

9

Zur Zwiespältigkeit des Enquete-Berichts siehe die Aufsätze von Hans Apel, Erwin K. Scheuch, Martin Kriele, Hubert Seiwert, Gerhard Besier und Heiner Barz in: Besier, Scheuch, Bd. 1, S. 270-380.

10

Hubert Seiwert, Der Staat als religiöser Parteigänger? In: Besier, Scheuch, Bd. 1, S. 351f.

11

Endbericht Sekten-Enquete, S. 34. In diesem Zusammenhang fordert der Bericht erneut dazu auf, grundsätzlich auf eine vereinheitlichende Begrifflichkeit, wie z. B. „Sekte“, zu verzichten. „Statt dessen sind spezifischere Bezeichnungen notwendig, die die Struktur, die Ausrichtung, die Ziele und ggf. die besonderen Konfliktmerkmale der jeweiligen Gruppe ausdrücken. Warum jedoch Konfliktmerkmale „ggf.“ erläutert werden sollen, wenn doch zuvor ausdrücklich gefordert wurde, nur „Konfliktberichte“ zu veröffentlichen, bleibt ein Geheimnis der Kommission.

12

Enquete-Kommissionsmitglied Seiwert berichtet, der Vertreter einer privaten Sektenberatungsstelle habe sich bei einer Anhörung der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ damit gebrüstet, er sammele Unterlassungsverpflichtungserklärungen wie andere Leute Briefmarken (Seiwert, a. a. O., S. 356). Bezeichnenderweise sah die Kommission davon ab, die Rechtsverletzung, die solche Unterlassungsverpflichtungserklärungen erst notwendig werden ließ, als konfliktträchtiges Verhalten zu werten.

   
   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer