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Nordrhein-Westfalen

Dieter Spürck
Familienrechtliche Konflikte mit „Sekten und Psychokulten“,

Handreichung für Richter, Anwälte, psychologische Gutachter, Jugendämter, Eltern, Betroffenen-Gruppen und Politiker, hg. vom Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998.

Unter dem Gesichtspunkt staatlicher Neutralitätspflicht ist bereits das Konzept der Broschüre problematisch. Der Titel setzt den Tenor der gesamten Broschüre, durch den suggeriert wird, dass Probleme in Sorgerechtsfragen häufiger auftreten, wenn die Eltern einer „rigoristischen Gruppierung“ angehören, wie der Autor in der gesamten Broschüre alle „neuen Glaubensgemeinschaften und Psychogruppen“ zusammenfassend bezeichnet (S. 8). Pauschal wird auf die „von vielen rigoristischen Gruppen ausgehenden Gefahren für Kinder“ und auf „alle möglichen Auswüchse“ hingewiesen (S. 8), obwohl Ministerin Fischer im Vorwort feststellt, dass aufgrund fehlender Erfahrungen keine allgemeinen Aussagen zu den tatsächlichen Erziehungsstilen der behandelten Gruppen gemacht werden könnten (S. 3). Wieso Spürck trotzdem im Falle der Zugehörigkeit eines Elternteils zu einer kleineren Glaubensgemeinschaft „in aller Regel ein psychologisches Gutachten“ ( S. 44) für angezeigt hält, kann daher nicht nachvollzogen werden. Würde man seiner Einschätzung folgen, so müssten in fast allen Sorgerechtsfällen familienpsychologische Gutachten erstellt werden, da der Autor zuvor zu Recht darauf hinweist, dass die von ihm angenommene Gefahren auch bei Eltern auftreten können, die keiner der kleineren Religionsgemeinschaft angehören.

 

Grundlage für die Broschüre sind u. a. die Berichte von „Aussteigern“ sowie Sekundärliteratur aus dem Bereich der Anti-Kult-Bewegung. Stellungnahmen der aufgeführten Gruppen sind mit Ausnahme einiger weniger sehr kurzer Zitate aus ihren Veröffentlichungen nicht berücksichtigt worden. So werden in bezug auf die Zeugen Jehovas werden Zitate verwandt, die in ihrer Literatur vor über 20 Jahren (!) erschienen sind. Die Zitate reflektieren im übrigen die damals in weiten Teilen der Gesellschaft allgemein üblichen Erziehungsvorstellungen. Ohne ausreichende Würdigung aktueller Aussagen der Religionsgemeinschaft wird bewusst der falsche Eindruck erweckt, die Erziehungsmethoden der Zeugen Jehovas seien „tendenziell autoritär“ (S. 57). Selbst wenn das – rein hypothetisch – so wäre, befände sich die Religionsgemeinschaft noch immer in „guter“ Gesellschaft neben einer der Großkirchen: Im gültigen Katechismus der Katholischen Kirche wird die Auffassung vertreten, körperliche Züchtigung sei heute noch zu praktizieren.1 Hier wird mit zweierlei Maß gemessen!

 

Die grundsätzliche Problematik von Sammelberichten zeigt sich auch hier. So wird z. B. verallgemeinernd von einem „für viele rigoristische Gruppierungen typisch überzogenen autoritären Erziehungsstil“ (S. 14)2 und das Kindeswohl gefährdenden „manipulativen gruppenspezifischen Abschottungs- und Disziplinierungsritualen“ (S. 35) gesprochen und unterstellt, dass „bei vielen rigoristischen Gruppen durch psychischen oder physischen Zwang jegliche Außenkontakte abgebrochen“ (S. 22) würden, nicht selten „die Beeinflussung eines Elternteils durch eine rigoristische Gruppe zum Scheitern der Ehe“ führe (S. 23) und oft „eine den Verstand ausblendende Hörigkeit“ anzutreffen sei (S. 24). Keine dieser abwertenden Behauptungen wird in dieser Allgemeinheit durch soziologische Forschungen gestützt. Im Gegenteil! Aber selbst wenn es in Einzelfällen bei Angehörigen solcher Religionsgemeinschaften zu einem solchen Fehlverhalten gekommen sein sollte, ist damit noch nicht belegt, dass ein sozial inadäquates Verhalten in diesen Gruppen häufiger vorkommt als bei Angehörigen anderer Konfessionen oder bei Konfessionslosen.

 

Eine sprachlich und inhaltlich völlig inakzeptable Entgleisung ist es, die Zugehörigkeit eines Elternteils zu einer „rigoristischen Gruppe“ als „Übel“ zu bezeichnen (S. 37). Abwertend ist auch die Behauptung, „bei einem Aufwachsen in einer rigoristischen Gruppe“ könne die Sozialisation „im Einzelfall bei günstigen Verhältnissen“ auch normal verlaufen (S. 41). Abgesehen davon, dass Kinder in der Regel in ihrer Familie und nicht in einer Gruppe aufwachsen, unterstellt die Broschüre hier, dass Kinder, deren Eltern einer solchen Gruppe angehören, im Regelfall und bei durchschnittlichen Verhältnissen nicht normal aufwachsen. Mit solch Pauschalurteilen, die außerdem den der Enquete-Kommission vorgelegten Forschungsergebnissen widersprechen3, werden Angehörige von Minderheitenreligionen diskriminiert und ins soziale Abseits gestellt.

 

Ebenfalls diskriminierend ist die Behauptung, „Geborgenheit, Orientierung und Sinngebung“ sei nur durch die Inkaufnahme von gravierenden Nachteilen („zu einem immens hohen Preis“, S. 62) zu bekommen. Weder wird ausgeführt, worin dieser Preis bestehen soll, noch erfolgt irgendeine Beweisführung. Sinngebung und „Heilsversprechen“ sind integraler Bestandteil jeglicher religiöser Überzeugung. Die Glaubensinhalte von Minderheitenreligionen als „falsche Heilsversprechen“ (S. 62) zu bezeichnen setzt implizit voraus, dass eine andere Sinngebung oder ein anderes „Heilsversprechen“ für richtiger gehalten wird. Eine solche Aussage lässt jedoch Objektivität vermissen, da eben mit objektiven Kriterien nicht beweisbar ist, ob es z. B. eine Wiedergeburt oder eine Auferstehung gibt oder ob man „in den Himmel kommen“ kann. Immerhin billigt Spürck den Minderheiten, „seien deren Aussagen auch noch so skurril oder ‚weltfremd‘“ (S. 34), Glaubensfreiheit zu. Dennoch machen seine Wertungen ein Grundproblem der sogenannten Sektenaufklärung deutlich: Bei der Beurteilung der religiösen Praxis und Lehre wird mit zweierlei Maß gemessen. „Obwohl Erfahrung und Vernunft nicht stärker strapazierend als die Glaubensinhalte der etablierten Kirchen – von der Heiligen Dreifaltigkeit über die Jungfrauengeburt bis hin zur Himmelfahrt –, werden die Lehren der ‚Sekten‘ als ‚verwirrend‘, ‚schädlich‘ und ‚gefährlich‘ bezeichnet.“4 Eine solche Bewertung spiegelt die weltanschauliche Überheblichkeit jemandes wider, der glaubt, es besser zu wissen. Wenn das allerdings der Staat ist, bringt er damit zum Ausdruck, dass er seine religiös-weltanschauliche Neutralität aufgegeben hat.

 

Geradezu erschreckend ist die Aussage, dass das als „falsch“ bewertete „Heilsversprechen“ auch noch bekämpft (S. 62) werden soll. Im Grunde ist das die Aufforderung, grundgesetzlich garantierte Rechte betroffener Minderheiten einzuschränken. Da dem Verfasser nicht unterstellt werden soll, dass er die Einschränkung von Meinungs- und Glaubensfreiheit befürwortet, muss die Äußerung wohl einer die Schlagworte der Anti-Sekten-Bewegung wiederholenden Unbedachtheit zugeschrieben werden. Dass eine solche Äußerung in einer staatlich verantworteten Broschüre zu finden ist, ist jedoch mehr als bedauerlich. Sie missachtet die Menschenwürde derjenigen, die Glück und Lebenssinn in der Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit gefunden haben, und verletzt ihre Empfindungen auf gröblichste Weise.

 

Nach Protesten seitens der betroffenen Gruppen, insbesondere der Zeugen Jehovas, erklärte sich das nordrhein-westfälische Ministerium bereit, die Broschüre durch ein vom Autor verfasstes Beiblatt zu ergänzen.

 
 

1

Katechismus der katholischen Kirche, München 1993, Nr. 2223.

2

In dem als Belegstelle angeführten Beschluss des OLG Frankfurt, der im übrigen von der herrschenden Rechtsprechung stark abweicht, ist lediglich ein vom Gericht aufgrund der Religionszugehörigkeit negativ bewerteter Sachverhalt während der Dauer des Getrenntlebens beschrieben worden. Dieser wurde allerdings beim Scheidungstermin nicht bestätigt (vgl. NJW 1997, 2932, dort Fn. 20). Eine solche Einzelfallentscheidung kann keineswegs den behaupteten typischen Erziehungsstil belegen, zumal das OLG Frankfurt eine Kausalität zwischen der Religionszugehörigkeit und dem Erziehungsverhalten der Mutter nicht nachgewiesen hat.

3

Endbericht Sekten-Enquete, S. 82.

 

   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer