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Kainsmal „Sekte“ -
der soziologische Blick auf religiöse Minderheiten

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Die ältere sozialwissenschaftliche Forschung betrachtete „Abweichung“ als Gegensatz zum natürlichen „Normalzustand“. Diese Übernahme der Wertmaßstäbe der Majorität legitimierte eine moralische Entrüstung über Devianz und leitete daraus ein Präventionsinteresse ab, also das Bestreben, „zu den Wurzeln des Übels vorzudringen, um sie und ihr Produkt zu beseitigen“1. In den sechziger Jahren begann die Soziologie jedoch, das Phänomen der Devianz als Ergebnis sozialer Festlegungsprozesse zu verstehen. Demnach ist ein Merkmal nicht an sich deviant, sondern erst aufgrund einer historisch gewachsenen und kollektiv wirksam gewordenen Definition. Ein Devianter ist demnach eine Person, der ein bestimmtes Etikett erfolgreich zugeschrieben worden ist2.

 

Die obige Frage nach der eigentümlich konvergenten Sekten-Diskussion in Deutschland muß also eigentlich lauten: Wie „wird Abweichung oder konkreter: werden soziale Randgruppen wie Sekten, Subkulturen, radikale Zirkel etc. wirklich, im wirklichen, handelnden Dasein ausgelöst? ... Wer trägt, kontrolliert und verfestigt sie?“3

 

Zur Kennzeichnung derartiger Definitions- und Ausgliederungsprozesse hat Erving Goffman den Begriff der Stigmatisierung4 geprägt. Ein Stigma ist ein soziales Vorurteil „gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Es beruht auf Typifikationen, d. h. Verallgemeinerungen ..., die nicht mehr überprüft werden.“ Stigmatisierungen knüpfen häufig bei Merkmalen an, die von denen der Majorität abweichen, „wie etwa körperliche Besonderheiten (z. B. eine Behinderung), wie eine Gruppenzugehörigkeit (z. B. die Mitgliedschaft in einer Sekte) oder wie ein Verhalten (z. B. der Verstoß gegen eine geltende Norm)“. Entscheidend ist jedoch, daß dem Merkmalsträger noch weitere negative Eigenschaf-ten zugeschrieben werden, die mit dem tatsächlich gegebenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben, häufig affektiv geladene Klischees von großer Einprägsamkeit und hoher Suggestivwirkung. Für das Jahr 1975 stellte Jürgen Hohmeier fest: „Gegenwärtig in der Bundesrepublik stigmatisierte Gruppen sind etwa Zigeuner, Gastarbeiter, Obdachlose, Zeugen Jehovas, Kommunisten, Wehrdienstverweigerer, uneheliche Mütter, sexuell Deviante, Rauschgiftkonsumenten, Strafentlassene, Körperbehinderte, Blinde, Alte, Geisteskranke und Sonderschüler.“5 Mehr als ein Vierteljahrhundert später muß diese Liste sicher modifiziert werden. Fest steht aber, daß nach wie vor Zeugen Jehovas und mit ihnen das gesamte Spektrum kleiner Religionsgemeinschaften, Weltanschauungsgruppen und inzwischen auch der Bereich der sogenannten (therapeutischen) Psychogruppen mit einem Stigma belegt sind.

 

Ebenso wie das komplementäre Konzept „Normalität“ können Stigmatisierungen der Orientierung und der Stabilisierung der persönlichen Identität dienen. Zusätzlich wirken sie system- und herrschaftsstabilisierend. Wie sich am Beispiel des Verhältnisses der Großkirchen zu den religiösen Minderheiten zeigen läßt, sind Stigmatisierungen ein adäquates Instrument zur Unterdrückung von Gruppen, deren „Konkurrenz man zu verhindern wünscht oder die man aus anderen Gründen von der Teilhabe an der Gesellschaft ausschließen will. Ein Kennzeichen von Stigmata, die diese Funktion erfüllen, ist in der Regel, daß ein Zusammenhang zwischen den zugeschriebenen negativen Eigenschaften der stigmatisierten Gruppe und einem unheilvollen Einfluß auf die Gesellschaft insgesamt behauptet wird.“6 Entsprechend wird im Hinblick auf religiöse Minderheiten immer wieder das Gespenst der gefährlichen „Sekte“ beschworen, die unter dem Deckmantel der Religion insgeheim die Gesellschaft auf destruktive Weise unterwandere, um (wahlweise) ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem zu etablieren, den Staat zu zerstören oder gleich die Weltherrschaft zu übernehmen. Unter Anwendung raffinierter Psychotechniken (z.B. „Gehirnwäsche“, „Programmierung“, o.ä.) würden unbedarfte Sinnsuchende, die sich typischerweise gerade in einer Lebenskrise befänden, in totalitäre Organisationen gelockt, um sie ihrer Umwelt zu entfremden und für dubiose Zwecke zu mißbrauchen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unkritisch solche Bedrohungsszenarien und Verschwörungstheorien als glaubwürdig akzeptiert werden, obwohl schon die „simplifizierende Pauschalität“ der immer gleichen Vorwürfe Nachfragen und Widerspruch auslösen müßte.7 Harvey Cox bezeichnet solche immer wiederkehrenden Klischees als „Mythen“, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie unabhängig von den Gegenständen existieren, die sie charakterisieren sollen.8 Dazu zählen:

  1. Der bereits erwähnte Mythos der Unterwanderung, mit dem religiösen Minderheiten unterstellt wird, die Gesellschaft zu gefährden.
  2. Der Mythos der sexuellen Perversion, der häufig mit dem Vorwurf des rituellen Mißbrauchs verknüpft wird.
  3. Der Mythos der Irreführung, demzufolge ehrliche Kommunikation mit einem Sekten-Mitglied unmöglich sei, da es sich stets listig verstelle.
  4. Der Mythos des bösen Blicks, der alle Sekten-Mitglieder als verhexte Opfer begreift, da geistig Gesunden der Beitritt zu einer Sekte nicht zugetraut wird.

Die Tatsache, daß die moderne Form solcher Hexerei, die „Gehirnwäsche“, von der Psychologie längst als nichtexistentes Phantom entlarvt wurde, vermag der ungehemmten Verbreitung dieses Mythos keinen Abbruch zu tun. Die wiederkehrenden Horrorgeschichten vertiefen in „Normalen“ den Eindruck, Sekten-Mitglieder seien sämtlich nicht nur verführt, abhängig und gehirngewaschen, sondern auch geistig beschränkt, eben irgendwie „krank“.

 

Wie kann es sein, daß solche Mythen, die mit der Realität in der Regel nichts zu tun haben, dennoch völlig kritiklos akzeptiert und geglaubt werden?

 


1

Matza, S. 24.

2

Becker, S. 9.

3

Wolfgang Lipp, Selbststigmatisierung. In: Brusten, Hohmeier. Zitate sind der Internetfassung entnommen.

4

Goffmann. Für Goffman ist Stigma bereits ein relationaler, d. h. soziale Beziehungen darstellender Begriff; er bezeichnet bei ihm aber doch noch eine Eigenschaft der Person, die „zutiefst diskreditierend ist“ (S. 11).

5

Jürgen Hohmeier, Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß. In: Brusten, Hohmeier.

6

Hohmeier, a.a.O.

7

Süss, S. 21.

8

Harvey Cox, Deep Structures in The Study of New Religions. In: Needleman, Baker, S. 122ff. Vgl. Süss, S. 20f.

   
   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer