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(Un)Wissen ist Macht –
der Kreuzzug der Spezialisten

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Personen, die Devianz definieren und Deviante anhand dieser Definition identifizieren und kontrollieren, werden im Etikettierungs-Ansatz als „Zuschreibungsspezialisten“ oder „moralische Unternehmer“1 bezeichnet. Sie berufen sich auf „das Bedürfnis des von ihnen vertretenen Sozialverbandes nach Schutz vor bzw. Sanktionen von Regelverletzungen“2.

 

Im Hinblick auf die Stigmatisierung religiöser Minderheiten haben vor allem die kirchlichen „Sektenbeauftragten“ die Position solcher Zuschreibungsspezialisten besetzt. Obwohl die Kirchen in der säkularen Gesellschaft „das Monopol auf Weltauslegung und Wertbestimmung verloren“ haben, wird ihnen „aber eine arbeitsteilig-organisatorische Zuständigkeit für Sinnfragen, für ‚letzte Werte‘ und vor allem für Kontingenzbewältigung nach wie vor zugeschrieben“3. Ungeachtet dessen, daß die Sektenbeauftragten die Interessen einer Institution vertreten, werden diese Interessen als für die Allgemeinheit relevant akzeptiert. Aus dieser Konstellation erwächst eine ungeheure Definitionsmacht. Sichtet man die Medienberichte zum Thema „Sekten“, so überrascht nicht: Die Informationen stützen sich fast ausschließlich auf Aussagen von Sektenbeauftragten, auf Elterninitiativen (häufig von Sektenbeauftragten initiiert und geleitet4), auf Aussteiger (fast immer zuvor von Sektenbeauftragten beraten), auf Seminare (meist von Sektenbeauftragten organisiert), auf ratgebende Bücher (der Sektenbeauftragten) usw.5 Das mangelnde Wissen des Laien und das dem Experten entgegengebrachte Vertrauen eröffnet diesem Freiräume, in denen er kaum einer Kontrolle unterworfen ist. Ein solches Wissensgefälle birgt „die prinzipielle Gefahr ‚der motivierten Konstruktion und Vermittlung „falschen“ Wissens‘ in sich und kann dazu verleiten, den Wahlspruch ‚Wissen ist Macht‘ in eine problematische Bedeutungsvariante zu verkehren“.6

 

Diese Macht versetzt die Experten in die Lage, die selbst eingebrachten Definitionen im Bewußtsein offizieller Organe zu verankern und zum institutionalisierten Richtwert zu erheben. So werden Politiker in der Regel erst durch Sektenbeauftragte „zum Handeln bzw. Reagieren veranlaßt bzw. aufgefordert – wobei sich die Veranlasser später auf die Reagierenden berufen können“7. Die Sensationsberichte der Medien erfüllen dabei eine wichtige Funktion. „Indem sie ein ‚Porträt‘ der Abweichung zeichnen und dieses durch häufige Wiederholungen oder breite Streuung in der Plausibilitätsstruktur der Adressaten verankern, schaffen sie einen Selbstverständlichkeitshorizont, der nötig ist, um Regelveränderungen als eine natürliche Reaktion ... erscheinen zu lassen“8.

 

Durch ihre Arbeit leisten die Sektenbeauftragten, ob bewußt oder unbewußt, einen wesentlichen Beitrag zur Stigmatisierung religiöser Minderheiten. Dies ist verständlich, da sich die Kirchen in einer direkten Konkurrenzsituation zu den stigmatisierten Gruppen befinden und damit ein ureigenes Interesse daran haben, diese als deviant darzustellen. Zudem legitimiert sich die Tätigkeit der Sektenbeauftragten und ihr Anspruch auf materielle und ideelle Unterstützung aus der von ihnen behaupteten Gefährdung der Gesellschaft. Aus diesem Legitimationszwang ergibt sich auch ein Interesse an hohen Deviantenraten, der z.B. zu einer maßlosen Übertreibung der Mitgliederzahlen kleiner Religionsgemeinschaften führte. Auf dem Höhepunkt des Booms der sogenannten Jugendsekten in den siebziger Jahren kursierten Zahlen von angeblich mehr als Hunderttausend Mitgliedern, während die tatsächliche Zahl der angesprochenen Gruppierungen tatsächlich wohl insgesamt unter 10.000 lag.9 Auch die Zahl der Scientology-Anhänger wurde mit mehreren Zehn- oder gar Hunderttausend völlig überzogen, sie dürfte in der Realität bei unter 6.000 liegen. Lediglich zwei Gemeinschaften haben mehr als 100.000 Mitglieder: die Neuapostolische Kirche (380.000) und die Zeugen Jehovas (166.000)10, während die übrigen oft nur wenige Hundert zählen.

 

Das Bemühen, die Devianzraten zu steigern, erklärt auch den Trend, den Kreis der Devianten stetig auszuweiten. Nennt Hohmeier 1975 nur die Zeugen Jehovas als stigmatisiert, so weitete sich der Kreis in der zweiten Hälfte der Siebziger rasch auf das neue Phänomen der sogenannten Jugendsekten aus. Bis Anfang der achtziger Jahre war dieser Begriff „so weit gedehnt, daß ihm beinahe die gesamte ‚Alternativszene‘ zugeschlagen“11 wurde. Inzwischen gehören auch Freikirchen und Pfingstgemeinden, vor allem aber der Bereich alternativer Heilmethoden und der (psycho-) therapeutische Beratungsmarkt zum Beobachtungsfeld der Sektenbeauftragten.

 

Da der Grad der gesellschaftlichen Anerkennung mit dem Grad der Glaubwürdigkeit korrespondiert, werden die stigmatisierten Gemeinschaften, nicht zuletzt auch aufgrund der Intervention der Sektenbeauftragten, nicht als ernstzunehmende Dialogpartner oder auch nur als Informanten anerkannt. Im Gegenteil: Im Sinne des oben genannten Mythos der Irreführung wird ihnen bewußt die Möglichkeit zur Selbstdarstellung verweigert. Dies schlägt auch auf nicht-theologische Wissenschaftsdisziplinen durch, wie Historiker feststellen mußten, als sie sich an die Aufarbeitung der Geschichte der Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“ machten. Ungeachtet der historischen Fakten, nach denen Zeugen Jehovas dem NS-Regime standhaft Widerstand leisteten und daher brutal verfolgt wurden, argumentierten Kritiker, die Thematisierung „nutze nur dieser – wie verächtlich formuliert wird – ‚Sekte‘ in ihren missionarischen Bemühungen“, und unterstellten, die Würdigung der Zeugen Jehovas als Opfergruppe [bedeute] automatisch eine Billigung oder gar Identifikation mit den Zielen der Wachtturm-Gesellschaft“12. Als die Wachtturm-Gesellschaft mit einer Wanderausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ und der gleichnamigen Videodokumentation an die Öffentlichkeit trat, wurde kolportiert, die Zeugen Jehovas versuchten, das Leiden der Verfolgungsopfer für die gegenwärtige Sektendiskussion zu instrumentalisieren. Daher kam ein Gutachten, an dem auch Sektenbeauftragte mitgearbeitet haben, zu dem Ergebnis, das Video sei für den Gebrauch an Schulen nicht zu empfehlen.13

 

Überhaupt ist es erklärtes Ziel der Sektenbeauftragten, religiöse Minderheiten aus den Schulen fernzuhalten. „Lassen Sie nie Vertreter von Sekten in den Schulen sprechen, denn dabei entsteht ein Schwelbrand, der nie mehr zu löschen ist“ forderte Heide-Marie Cammans, Leiterin des Sekten-Infos Essen, auf einer Lehrerfortbildung14. Umgekehrt beschränken sich die Sektenbeauftragten nicht auf mediale Präsenz: mit Fortbildungen, Handzetteln und audio-visuellen Unterrichtsmedien rüsten sie Multiplikatoren wie Lehrer aus, in ihrem Sinne zu agieren.

 


1

Lofland, S. 136ff.

2

Usarski, S. 68.

3

Karl-Wilhelm Dahm, Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution. In: Dahm, Luhmann, Stoodt, S. 133. Zitiert nach Usarski, S. 68.

4

Zum Einfluß von Sektenbeauftragten auf Elterninitiativen vgl. Usarski, S. 87ff., 186ff. Dort findet sich auch ein Bericht über von Sektenbeauftragten manipulierte Vorstandswahlen einer solchen Initiative.

5

Zugespitzt urteilt die Scientology-Gegnerin Renate Hartwig: „Der Steuerzahler finanziert mit einem Millionen-Etat sogenannte ‚Sektenbeauftragte’, von denen breite Aufklärung erwartet wird. Statt dessen hat sich aus deren Kreis eine Kritikersekte formiert. Geführt vom Kader einer kleinen Gruppe, die mit mafia-ähnlichen Methoden jegliche Aufklärung außerhalb ihres zugelassenen Kreises be- und verhindert.“ Zitiert nach G. Besier, R. Besier, S. 31.

6

Usarski, S. 102. Vgl. Schütz, Luckmann, S. 281.

7

Scheffler, S. 39f.

8

Usarski, S. 66.

9

Scheffler, S. 22ff. Wie Scheffler zeigt, werden im Einzelfall sogar Kampagnen gegenüber religiösen Gruppen fortgesetzt, die in der Bundesrepublik bereits nicht mehr existierten.

10

Angaben des religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID.

11

Wolfgang Kuner, Die neuen religiösen Gruppen in der BRD: Interpretationen und Realität. Eine soziologische Untersuchung am Beispiel der Kinder Gottes (Familie der Liebe). In: Graff, Tiefenbacher, S. 105. Selbst Zeugen Jehovas wurden von Sektenbeauftragten mit den „Jugendsekten“ in Verbindung gebracht: „Gerade sie haben einen hohen Anteil jüngerer Mitglieder“, man müsse sie „zu diesen ‚destruktiven’ Gruppen rechnen“. „Die Elterninitiativen werden gut daran tun, Eintrittswillige aufzunehmen und zu betreuen, die mit einer althergebrachten Sekte belastet sind. Denn die Wirkung auf die Familie kann durchaus die gleiche sein, ob nun Zeugen Jehovas oder die Vereinigungskirche des Koreaners Mun eine Familie in Schwierigkeiten gestürzt haben.“ (Zitate nach Usarski, S. 214.)

12

Detlef Garbe, Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Forschungsstand. In: Besier, Vollnhals, S. 29. Häufig wird auch suggeriert, Historiker, die sich mit der Geschichte der Zeugen Jehovas befassen, stünden den Zeugen Jehovas auch theologisch nahe. Garbe, der sich als erster Historiker eingehend mit den von der Widerstandshistoriographie zuvor „vergessenen“ Zeugen Jehovas gewidmet hat, fühlt sich durch solche Unterstellungen offenbar belästigt, denn in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen verweist er immer wieder darauf, daß er kein Zeuge Jehovas sei, sondern den Lehren dieser Glaubensgemeinschaft sehr kritisch gegenüberstehe. Es ist bedauerlich, daß er sich offensichtlich genötigt sieht, sich diesbezüglich zu rechtfertigen.

13

Gemessen am wesentlichen Kritikpunkt (der Film „greift einseitig und verfälschend eine kleine Gruppe von Zeugen Jehovas heraus und verallgemeinert die Aussagen“, Schreiben des Landesmedienzentrums Rheinland-Pfalz vom 24.7.1997) müßte der Großteil der Anti-Sekten-Filme aus den Bildstellen entfernt werden. Aufgrund einer Reihe positiver Beurteilungen haben viele Bildstellen „Standhaft trotz Verfolgung“ inzwischen in den Verleih aufgenommen. Zur Diskussion um die Dokumentation siehe die Aufsätze von Johannes Wrobel, Gabriele Yonan, Dieter Hellmund und Lutz Lemhöfer in: Hesse. Ähnliche Erfahrungen mit der Thematik machte der Filmemacher Fritz Poppenberg (Vgl. dazu G. Besier, R. Besier, S. 28ff.).

14

Usarski, S. 35.

   
   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer