Religiöse Bildung
in Deutschland

Curricula

Unterrichts-
materialien

Diskriminierung

Wissenschaft

Literatur

Links

News

 

| impressum | feedback | zurück | home |  

 

Endstation Schublade –
Folgen der Stigmatisierung

Seite 3 von 3
 

Devianz-Zuschreibungen betreffen die Teilhabe des stigmatisierten Individuums an der Gesellschaft, seine Interaktionen mit Nicht-Stigmatisierten und haben Einfluß auf seine Identität.

 

Stigmatisierungen führen häufig zu Disprivilegierung und Isolation durch den Verlust von bisher ausgeübten Rollen. So wird Angehörigen religiöser Minderheiten zum Beispiel der Zugang zu manchen Berufen oder der beruflicher Aufstieg verwehrt. „Dies kann sogar jemandem geschehen, der sich zu einer asiatischen Religiosität bekennt, die in ihrem Herkunftsland Indien über eine Jahrtausende alte Tradition verfügen mag, bei uns aber als gefährlich und bedrohlich erscheint.“1 Ein solcher Ausschluß ist sachlich meist durch nichts gerechtfertigt, sondern eine Folge der Stigma-Generalisierung.

 

Im Rahmen der Devianz-Zuschreibung rekonstruieren die Interaktionspartner das gesamte Verhalten und die bisherige Biographie der betroffenen Person, indem sie es tendenziell auf das Stigma beziehen und von diesem her interpretieren. Wurde ein Verhalten bislang z.B. als „forsch“ angesehen, wird es nun als „aggressiv“ aufgefaßt. Da dem „Normalen“ meist das Instrumentarium fehlt, mit dem „Anderssein“ umzugehen, erlebt er die Konfrontation häufig als bedrohlich und greift zu Strategien wie Ablehnung, Interaktionsvermeidung und sozialer Isolierung. So kommt es häufig vor, „daß selbst aufgeschlossene und tolerante Menschen unter dem Stichwort ‚Sekte‘ zuerst an unvermutete Gefahren denken und ein Unbehagen bei dem Gedanken spüren, Gläubigen aus solchen Gemeinschaften zu begegnen“2. So wird das Stigma zu einem „master status“, der die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt. Der Stigmatisierte selbst kann das Stigma kaum auflösen, weil alle seine Reaktionen – seien es Ärger, Angst, Aufregung, Aggression oder Resignation – lediglich als Bestätigung der ihm zugeschriebenen Eigenschaften aufgefaßt werden.3 Dadurch lastet ein schwerer psychischer Druck auf ihm: Da er damit rechnen muß, daß selbst unbedeutende Lebensäußerungen als Bestätigung des Stigmas gewertet werden, wird er erhöhte Aufmerksamkeit darauf verwenden, keinen offensichtlichen Grund für derartige Unterstellungen zu liefern. Dies und die erfahrenen Diskriminierungen können aber sogar eine „Sozialisation zum Stigmatisierten“ bewirken, an deren Ende eine deformierte Persönlichkeit steht.4 Aus ständig zugeschriebenen und damit erwarteten Eigenschaften werden schließlich tatsächliche – eine „self-fulfilling prophecy“5, die als Rückkopplung wiederum die Erwartungen zu bestätigen scheint und die Fremdzuschreibung stabilisiert.

 

Für die Situation in der Schule bedeutet dies, daß sich die vom Lehrer in aufklärerischer Absicht vermittelten Typisierungen in den Einstellungen der „normalen“ Schüler niederschlagen und damit auch auf das Selbstbild und das Verhalten der einer religiösen Minderheit angehörenden Schüler einwirken.6 Letztlich führt es diese nicht selten in genau die Isolation, die der präventiv ausgerichtet Unterricht Sektenangehörigen vorwirft. Im schlimmsten Fall reagieren die „Normalen“ mit Aggression und Gewalt.7 Der Unterricht bewirkt somit genau das Gegenteil dessen, was er vorgibt zu bewirken, nämlich Menschen zu schützen.

 

Sogar nach ihrem Austritt8 stellen ehemalige Mitglieder religiöser Minderheiten häufig fest, daß ihnen das Sekten-Stigma weiterhin hartnäckig anhängt. Immerhin haben sie in ihrer Vergangenheit „Anfälligkeit“ für „zweifelhafte Heilsversprechen“ gezeigt und sind dadurch weiterhin verdächtig. Um unmißverständlich klar zu stellen, daß sich der „Devianzverdacht nur auf einen vorübergehenden und eigentlich gar nicht selber zu verantwortenden ‚Ausrutscher‘ beziehen darf, keinesfalls aber auf eine persönlichkeitsinhärente Disposition für abweichende Lebensmuster schlechthin“, machen manche Betroffene ihre Abkehr durch einen negativen Erfahrungsbericht öffentlich. Indem sie ihre frühere Mitgliedschaft qualitativ uminterpretieren erscheinen sie als passive Opfer und leugnen die Verantwortung für ihre frühere Teilnahme. „Zusätzlich dürfen sie – anstatt durch Isolation und Liebesentzug sanktioniert zu werden – auf Mitgefühl und Solidarität hoffen.“9

 


1

Süss, S. 12.

2

Süss, S. 21.

3

Hohmeier, a.a.O.

4

Usarski, S. 77f.

5

Lemert hat den Vorgang der Herausbildung reaktiver devianter Verhaltensweisen als „sekundäre Devianz“ bezeichnet. Vgl. Lemert, S. 40ff.

6

Friedrich Lösel, Prozesse der Stigmatisierung in der Schule. In: Brusten, Hohmeier.

7

Beispiele dazu in: Krenzer und auf dieser Website.

8

Passend zum Stigma wird bei „Sekten“ in der Regel nicht wie bei Kirchen vom „Austritt“, sondern vom „Ausstieg“ gesprochen. Ein „Ausstieg“ wird z.B. auch aus anderen negativ besetzten Bezugsgruppen wie der Drogenszene, dem kriminellen Milieu „geschafft“.

8

Usarski, S. 135f. Neben dieser rehabilitierenden Funktion, die negativen Erfahrungsberichten beigemessen werden kann, ist auch denkbar, daß eine Negativ-Bewertung des ehemaligen Gruppenlebens dem Konstrukteur eines entsprechenden Erfahrungsberichts helfen kann, die kognitive Dissonanz zu vermindern, die der Gruppenaustritt hat entstehen lassen. Ein von Enttäuschungen beeinflußter Rückblick kann dazu führen, das frühere Leben in der Gruppe sowie gewisse Züge der Organisation negativ zu überzeichnen.

   
   

nach oben


   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer