Nordrhein-Westfalen
Jugendministerium Nordrhein-Westfalen (Hg.) „Bausteine für Jugendarbeit und Schule zum Thema ‚Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘“,
Düsseldorf 1998.1
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Die Arbeitsmappe gliedert sich in zwei Teile. Teil 1 enthält Artikel2
zu den „Grundlagen“ des Themas, während Teil 2 „Bausteine“ in Form von Unterrichtsvorschlägen mit Materialien anbietet. Wenngleich
einzelne Aufsätze einen recht ausgewogenen Standpunkt präsentieren und auch einige Entgleisungen der Anti-Kult-Literatur
zurechtrücken3, werden auch hier wieder gängige Vorurteile u. a.
über „Manipulation“ und „soziale Kontrolle“ wiederholt, die spätestens seit der Veröffentlichung des Berichts der Enquete-Kommission
in der Diskussion keine Rolle mehr spielen dürften.
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Dies führt zu einigen erstaunlichen inneren Widersprüchen. Das beginnt
bereits im Vorwort von Ministerin B. Fischer, die zwar die individuellen Entwicklungschancen der modernen pluralistischen Gesellschaft
beschwört, einige Zeilen später jedoch „wirkungsvolle Präventionsarbeit“ fordert, „die schon bei Kindern und Jugendlichen ansetzen muss“.
Damit ist das Urteil bereits im Vorwort gesprochen. Ähnlich widersprüchlich argumentiert S. Schlang in seinem Artikel „Sekten oder was?
Zur Kritik des Sektenbegriffs“. Positiv ist zunächst, dass er dem Urteil der Enquete-Kommission folgt, der Begriff „Sekte“ eigne sich
„nicht für Aufklärung und Information“, sondern er sei „vielmehr ein Kampfbegriff im religiösen und weltanschaulichen Meinungsstreit“
(S. 12). Sein Fazit muss jedoch überraschen: Da weder der Begriff „Sekte“ noch alternative Bezeichnungen die mit „der
religiös-weltanschaulichen Vielfalt verbundene Problematik in zufriedenstellender Weise“ erfassten, man aber „ein Wort für eine
erste Kennzeichnung des Themas“ brauche, biete sich „‚Sekte‘ auf Grund seiner hohen Signalwirkung durchaus an“ (S. 13). Eine
umwerfende Logik! In Ermangelung einer geeigneten Alternative soll der Begriff, der unmittelbar zuvor als diskriminierender
Kampfbegriff gekennzeichnet wurde, gerade wegen dieser Wirkung weiterhin Verwendung finden. Auf die Bezeichnung komme es
letztlich nicht so sehr an, „denn mit der Benennung ‚Sekte‘ ist das Problem genauso wenig erkannt wie mit einer ärztlichen
Diagnose ‚Krankheit‘“ (S. 13). Einen unpassenderen Vergleich hätte Schlang kaum bemühen können. Vermutlich beschreibt er
aber recht zutreffend die Assoziationen, die „Sektenexperten“ haben, wenn sie an ihr Sachgebiet denken. Zu Recht weist B.
Rodrigo in ihrem Artikel „Da ist guter Rat teuer [...] brauchen wir eine eigenständige ‚Sektenberatung‘?“ darauf hin,
dass die „Gefahr besonders groß [ist], daß die Beraterin/der Berater die eigene Sicht der Dinge und die eigene Weltanschauung
zum Maßstab der Beratung macht“ (S. 70).
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Auch Dieter Spürck hat einen Beitrag zum Thema „Rechtliche Aspekte religiös /
weltanschaulicher Vielfalt“ geleistet, in dem viele Aussagen seiner hier ebenfalls besprochenen Broschüre wiederholt werden. In dem Abschnitt
„Äußerungsrecht“ (S. 76 ff.) leitet der Autor Lehrkräfte dazu an, wie sie in ihrer Ächtung der Religionsgemeinschaften bis an die
Grenzen der Meinungsfreiheit gehen können: „Der ‚sektenkritische‘ Pädagoge muss grundsätzlich auch nicht vor wüsten Klagedrohungen
der im Unterricht angesprochenen Gruppen ängstlich zurückweichen“ (S. 78 f.). Wichtig sei es nur, sich der Grenzen des Äußerungsrechts
bewusst zu sein, „umso mehr, wenn Schüler oder deren Eltern Mitglieder derartiger Gemeinschaften sind“ (S. 76). Um diese Grenzen zu
demonstrieren, listet er beispielhaft auf, welche Äußerungen von Gerichten gerade nicht gerügt worden seien. Damit will er zeigen,
dass es „sehr viel weitere Spielräume für kritische Aussagen über rigoristische Gruppen [gibt], als vielfach angenommen. Dies
ermöglicht dem Pädagogen einen ‚offenen‘ Unterricht, ohne dass er befürchten muss, vor Gericht von aggressiv auftretenden
rigoristischen Gruppen gemaßregelt zu werden“ (S. 76). Die von Spürck formulierten Regeln offenbaren deutlich die Absicht:
Ziel des Unterrichts ist für ihn nicht etwa, über eine bestimmte Gruppe aufzuklären, sondern diese mit allen gerade noch
zulässigen Mitteln verächtlich zu machen. Wie sonst soll sein Hinweis verstanden werden, die Auswahl des Unterrichtsmaterials
werde durch den Umstand erleichtert, dass „den Gruppierungen [...] nicht nur eigene Verhaltensweisen und Publikationen
angelastet werden [können], sondern grundsätzlich auch solche anderer gleichgesinnter Vereine “? (S. 78). Dass er eine
solche Vorgehensweise auch noch mit dem Etikett „offener Unterricht“ versieht, bedeutet eine Verkehrung dieses modernen
pädagogischen Konzepts in sein Gegenteil. Spürcks Ansatz widerspricht in eklatanter Weise selbst der von der Enquete-Kommission
empfohlenen Aufklärung über „Sekten“. Hier ist keine Rede mehr von Differenzierung und Einzelfallbetrachtung, hier geht es
nur noch um Herabwürdigung.
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Die Arbeitsmappe entstand unter Federführung des Informations- und
Dokumentationszentrums Sekten/Psychokulte (IDZ) bei der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS), Landesstelle NRW e. V.
und unter Mitarbeit der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW e.V. |
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Unter den Autoren befinden sich auch Jürgen Eiben und Werner Helsper,
die bereits als Sachverständige für die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ tätig waren. |
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So z. B. W. Helsper über das Buch „Die Sekten-Kinder“ von Kurt-Helmuth Eimuth
(S. 37 f., Einzelheiten dazu auf dieser Website unter: Fachliteratur). Überraschenderweise wird das kritisierte Werk dennoch im Anhang empfohlen
(S. 297). |
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