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Konflikte mit religiösen Minderheiten erwachsen meist aus kulturellen Differenzen.
Verhaltensweisen, die hierzulande unüblich sind, werden leicht mißverstanden, in ihrer Intention falsch gedeutet und als bedrohlich
empfunden. Um solchen Fehldeutungen zu entgehen ist es zum einen unerläßlich, die religionshistorischen Wurzeln einer Gemeinschaft
zu verstehen. Des weiteren sollte fremde Religiosität nicht ausschnitthaft aufgrund auffälliger Verhaltensweisen beurteilt werden.
Der Respekt gegenüber der fremden Religiosität gebietet, einer Gemeinschaft unvoreingenommen zu begegnen und sie in ihrer Ganzheit
und Ernsthaftigkeit wahrzunehmen. |
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Besonders schwer fällt dies naturgemäß bei religiösen Bewegungen, die aus fremden
Kulturräumen stammen. So ist die in der hinduistischen Tradition sehr geschätzte Institution des Guru im christlichen Traditionsraum
unbekannt. Trotzdem muß sich die westliche Gesellschaft durch viele neue religiöse Gemeinschaften mit diesem Modell auseinandersetzen.
Die neutrale Religionswissenschaft kann und will die Frage, ob es sich im Einzelfall um einen spirituellen Meister oder um einen
Scharlatan handelt, nicht beantworten. In der öffentlichen Diskussion wird jedoch schon allein aus der Tatsache einer hierarchisch
strukturierten Beziehung Guru-Adept auf Unterdrückung und Ausbeutung und möglicherweise sogar auf kriminelle Machenschaften geschlossen.
Solche pauschalen Verdächtigungen werden dem Phänomen natürlich nicht im mindesten gerecht, sie dienen allein der Stigmatisierung. |
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In ähnlicher Weise führt häufig das Finanzgebaren zu Fehldeutungen und dem Vorwurf
der materiellen Ausbeutung der Anhänger. Abgesehen davon, daß wirtschaftliche Aktivitäten u. a. auch der nötigen finanziellen Absicherung
einer Gruppe dienen kann, die anders als die Kirchen nicht über staatlich eingetriebene Kirchensteuern verfügt, wird die religiöse
Dimension gänzlich ausgeblendet. So ist z.B. das Betteln der Krishna-Mönche (ISKCON) keine raffinierte Form der Bereicherung, sondern
Ausdruck des uralten asketischen Ideals der indischen Sannyasin, die in Indien als alltäglicher Ausdruck gelebter Religiosität von der
Gesellschaft akzeptiert wird.1 Im Hinblick auf die Finanzen religiöser
Minderheiten trifft man gelegentlich auch auf regelrechte Falschinformationen. So wird immer z.B. immer wieder kolportiert, die
Wachtturm-Gesellschaft, die Dachorganisation der Zeugen Jehovas, sei eine amerikanische Aktiengesellschaft. Mit dieser Behauptung
soll offensichtlich suggeriert werden, die Gemeinschaft diene der Gewinnerzielung und finanziellen Ausbeutung ihrer Mitglieder.
Richtig ist dagegen, daß Jehovas Zeugen in den USA als „nonprofit“-Organisation und als steuerbefreite „Kirche“ anerkannt sind. |
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Das letzte Beispiel zeigt, daß nicht nur religiöse Bewegungen mit fernöstlichen
Wurzeln von Mißverständnissen bzw. (allzu oft leider) bewußten Falschinformationen betroffen sind. Auch Glaubensansichten von
Minderheiten mit christlichem Hintergrund werden nicht selten der Lächerlichkeit preisgegeben oder als gefährlich gebrandmarkt.
Als Beispiel hierfür kann die Betrachtung bei den Zeugen Jehovas verbleiben. Ungeachtet eines komplexen Glaubensgebäudes, das
sicherlich der theologischen Diskussion bedarf, werden sie in der Öffentlichkeit nur unter einigen wenigen populistischen,
emotionsgeladenen Schlagworten abgetan. Dazu gehört ihre Endzeiterwartung ebenso wie die Ablehnung von Bluttransfusionen.
Mit apokalyptischen Visionen würden sie Anhänger und interessierte Personen in Angst versetzen, um sie an die Gemeinschaft
zu binden. Auch in diesem Fall relativiert sich der Vorwurf relativiert, wenn man sich auf die christlichen Wurzeln der
Glaubensgemeinschaft besinnt, denn die Erwartung des „Jüngsten Tages“ ist ein urchristlicher Glaubensinhalt. Jehovas Zeugen
verstehen zudem den vermeintlichen „Weltuntergang“ positiv, als Weltbewahrung durch göttlichen Eingriff. Wenn es um die Haltung
der Zeugen Jehovas zu Bluttransfusionen geht, spielen Emotionen eine besonders große Rolle. Dabei wird häufig nicht zur Kenntnis
genommen, daß sie lediglich von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen und sich aus Glaubensgründen für verfügbare
medizinische Behandlungsalternativen entscheiden. Die oft kolportierte Behauptung, die Ablehnung von Bluttransfusionen verursache
jährlich Tausende von Todesfällen entbehrt jeder Grundlage. Gemessen an der Anzahl der Mitglieder hieße das, daß es allein in
Deutschland jährlich mindestens fünfzig solcher Todesfälle geben müßte. Gerade im Hinblick auf dieses sensible Thema überrascht
immer wieder, auf welche Weise Schlagzeilen ohne Rücksicht auf die Gefühle Betroffener produziert werden. Als tragischer Beleg
kann die Berichterstattung über den Tod des Säuglings Simon Hartl in Österreich dienen. Im juristischen Nachgang wurden die
behandelnden Ärzte 1997 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Obwohl der Umstand, daß die Eltern eine Bluttransfusion
abgelehnt hatten, für das Überleben des Kindes keine Rolle gespielt hatte und in der Urteilsbegründung nicht einmal mehr erwähnt
wurde, mußten Simons Eltern zusätzlich zu ihrem privaten Leid auch noch gegen eine beispiellose Medienkampagne ankämpfen. Die dort
verbreiteten Anschuldigungen wurden später immer wieder ungeprüft übernommen und fanden ihren Weg sogar bis in das Lehrerhandbuch
eines Schulbuchs.2 |
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An dieser Stelle fehlt der Raum, um auf die Vielzahl von Vorwürfen einzugehen,
die gegen reli-giöse Minderheiten erhoben werden. Religionswissenschaftliche und juristische Überprüfungen erweisen jedoch immer
wieder die große Diskrepanz zwischen Anschuldigungen und Realität. Dies hat nicht zuletzt der langjährige Prozeßmarathon gezeigt,
den Jehovas Zeugen zur Erlangung der Körperschaftsrechte durch alle Instanzen der Verwaltungsgerichte sowie das Bundesverfassungsgericht
geführt haben. Am 24. März 2005 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin der Gemeinschaft in einem endgültigen Urteil bestätigt, die
Voraussetzungen für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erfüllen. Das OVG Berlin stellte fest, daß es für die Vorwürfe, die Gemeinschaft verletze Grundrechte Dritter oder pflege
„‚eminent familienfeindliche‘ Praktiken“ keine behördlichen oder gerichtlichen Erkenntnisse gebe.3.
Dem Richterspruch folgend verlieh der Berliner Senat der Religionsgemeinschaft Verleihung am 13. Juni 2006 den Status einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts.4 |
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Warum werden die immer gleichen, längst widerlegten Vorwürfe dennoch weiterhin erhoben,
ja regelrecht kultiviert? Die öffentliche Diskussion verzichtet aus gutem Grund weitgehend auf inhaltliche Auseinandersetzungen. Eine
theologisch-intellektuelle Auseinandersetzung würde in der säkularisierten Öffentlichkeit kaum den angestrebten Widerhall finden. Weit
wirkungsvoller (und bequemer) ist es, auf fremde Vorstellungen gar nicht erst einzugehen und sie als inferior oder gar areligiös abzutun.
Eine solche Unterscheidung zwischen „echter“ und „falscher“ Religiosität setzt die eigenen Wertvorstellungen als absolut, d. h. die Werte
der Gemeinschaften werden als „totalitär“ bekämpft, während die Begründung dafür selbst auf totalitäre Weise erfolgt.5 |
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Auch die Enquete-Kommission hat der Behauptung, Sekten produzierten laufend Konflikte
eine eindeutige Absage erteilt. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen
Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr dar für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche.“6
Sekten sind „genauso wenig gefährlich oder böse wie DIE Ausländer insgesamt kriminell“ oder „die jüngsten spektakulären Fälle von Kindesmißbrauch
durch katholische Priester für deren Berufsstand typisch sind“.7 Konflikte mit alternativer Religiosität liegen in der Regel nicht in
krimineller Energie begründet, sondern darin, daß unsere Gesellschaft den fundamentalen Wandel der Religionskultur nicht verarbeitet hat. |
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