Mitglieder als Opfer? –
Kritik der diskriminierenden Rollenzuschreibungen |
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Nach allgemeiner Vorstellung hat der Beitritt zu einer Sekte nur wenig mit einer
freien Entscheidung zu tun, vielmehr erfolge die Anwerbung mittels ausgefeilter Psychotricks, die um so wirkungsvoller seien, wenn die
Opfer akute psychische Probleme hätten. Dieses Konversionsmodell widerspricht den empirischen Ergebnissen. Bereits zuvor wurde darauf
hingewiesen, daß die oft angeführte „Gehirnwäsche“, durch die jemand unbemerkt und gegen seinen Willen „umprogrammiert“ werde, ein
moderner Mythos ist. „Es gibt keinen einzigen empirischen Hinweis darauf, daß eine Person gegen ihren eigenen Willen gleichsam in
eine neue religiöse Bewegung ‚hineinmanipuliert‘ wurde. Alle Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Hinwendung
zu einer neuen religiösen Bewegung als ein Prozeß gedeutet werden muß, an dem der potentielle Konvertit aktiv beteiligt ist und den er
nicht als ‚Opfer‘ passiv erlei-det.“ Die gezielte Anwerbung von Mitgliedern ist für den Beitritt quantitativ von untergeordneter
Bedeutung.1 Eine Mitgliedschaft bahnt sich typischerweise über eine längere
Periode an. Dementsprechend hat eine Studie unter Jehovas Zeugen in Deutschland ergeben, daß sich Konvertiten im Durchschnitt 3 Jahre
lang systematisch mit den Lehren der Gemeinschaft befaßten, bevor sie sich zur Taufe entschlossen. Umgekehrt verbleiben durchaus nicht
alle Kinder, die in Familien von Zeugen Jehovas hineingeboren werden, in der die Kindertaufe ablehnenden Gemeinschaft. Beckford hat
in einer Studie unter englischen Zeugen Jehovas festgestellt, daß etwa 1/3 der Jugendlichen über 16 Jahren die Zeugen Jehovas verlassen
hatten.2 Der Mythos einer psychischen Destabilisierung, mittels derer
heimtückische Seelenfänger willenlos gemachte Opfer manipulieren, wurde durch die Forschung widerlegt. Die Hinwendung zu einer religiösen
Minderheit ist vielmehr Ergebnis einer selbstgesteuerten Entscheidung. |
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Auch für den Verlauf der Mitgliedschaft fehlt jeder Nachweis der oft behaupteten
massiven psychosozialen Abhängigkeit oder dafür, daß Mitglieder religiöser Minderheiten weniger selbstverantwortlich, offen, mobil
und reflexiv seien als der Rest der Bevölkerung. Die verfügbaren empirischen Daten deuten sogar eher auf das Gegenteil hin3.
Ein im Vergleich zur restlichen Bevölkerung abweichender Prozentsatz psychisch Geschädigter bei religiösen Minderheiten konnte nicht
festgestellt werden. Eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie ergab dagegen schon 1981: „Psychisch labile Personen
erfahren häufig durch den Anschluß an eine [Neue Religiöse Bewegung] eine gewisse Stabilisierung.“4
Hinweise auf „Psychomutationen“ wurden von keinem der befragten Mitglieder, Eltern und Freunden von Mitgliedern sowie ehemaligen
Mitgliedern gegeben. „Auch Eltern haben immer wieder festgehalten, daß sich das Wesen ihres Kindes nicht grundlegend verändert habe.“
Eine viel breitere Unterstützung von Mitgliedern neuer spiritueller Bewegungen durch ihre Verwandten als dies gemeinhin angenommen
wird, bestätigt auch die 1982 von Kuner vorgelegte Studie: Die „Erfahrungen zum Positiven hin [stimmten] nicht mit den von den
Medien, Experten und Elterninitiativen erhaltenen Informationen“ überein.5
Eine von Sieber durchgeführte Studie stellte fest: „Selbst bei großzügiger Interpretation muß davon ausgegangen werden, daß
Beratungsfälle nur außerordentlich selten auftreten und nur ausnahmsweise erfaßbar sind.“6 |
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Wenn trotz solcher Forschungsergebnisse am Vorwurf der „psychischen Destabilisierung“
festgehalten wird, dann geschieht dies wegen seiner strategischen Bedeutung im Rahmen der Stigmatisierung der Gemeinschaften. „Die Fiktion,
bei den Mitgliedern ... handele es sich um ih-rer Willensfreiheit beraubte ‚Opfer‘ von Seelenfängern, widerspricht jedoch nicht nur den
empirischen Erkenntnissen. Sie verletzt auch die Würde dieser Menschen, indem sie als unfähig zur selbstverantwortlichen Lebensführung
angesehen werden. Sie als ‚Opfer‘ psychischer Manipulationen zu bezeichnen bedeutet eine Abwertung ihrer freien religiösen
Entscheidung“7 und beraubt sie jeder Chance, als glaubhaft angehört zu werden.
„Opfer kann man nur retten. Mit souveränen Subjekten dagegen muß man sprechen, um ihre wahren Motive, Lebensumstände und ... ihre
wirklichen Probleme kennen zu lernen. Die Differenzierung nach innen/außen, Zwang/Befreiung, Subjekt/Objekt etc. [würde jeder]
Angehörige einer solchen Gemeinschaft ... sofort zurückweisen, weil er sie selbst durch seine eigenen Lebensvollzüge gar nicht
verifizieren kann.“8 Selbstverständlich kann die Mitgliedschaft in
Religionsgemeinschaften mit hohen Ansprüchen an die individuelle Lebensführung Bindungen schaffen, die auch als Abhängigkeit
interpretiert werden können. Dies gilt aber nicht nur für religiöse Gemeinschaften. „Von den Betroffenen werden diese Bindungen
in der Regel nicht als unerwünschte Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen.“9 |
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Hinsichtlich der Situation von „Kindern und Jugendlichen in neuen religiösen Gemeinschaften
und Psychogruppen“ bestätigten die der Enquete-Kommission vorgelegten Gutachten, daß die „erzieherische Vermittlung von – gegenüber den großen
Volkskirchen – ‚abweichenden‘ religiösen Anschauungen und Glaubensprinzipien [...] nicht als problematisch verstanden werden [kann].“ Es könne
„keineswegs abgesichert behauptet werden, daß die Gefahr für Heranwachsende, in neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und
Psychogruppen Opfer von physischen oder psychischen Mißhandlungen bzw. Schädigungen zu werden, generell größer ist als in anderen
Milieus. [...] Deshalb können hochproblematische, das geistige, seelische und körperliche Kindeswohl verletzende, autonomienegierende u
nd mißhandelnde Erziehungsvorstellungen und -praktiken neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen nicht
generalisiert unterstellt werden.“10 |
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Ebenso wie der Beitritt ist auch der Austritt eine freie Entscheidung eines Gläubigen.
Die Gutachten der Enquete-Kommission bestätigen: „Die verbreitete Auffassung, daß es nahezu unmöglich sei, eine neue religiöse Bewegung
wieder zu verlassen, läßt sich empirisch nicht bestätigen.“ „Es lagen der Kommission keine Informationen darüber vor, die darauf hindeuteten,
daß Personen, die eine neue religiöse Bewegung verlassen wollten, daran mit Gewalt oder anderen ungesetzlichen Methoden gehindert wurden.
Es lagen auch keine Belege dafür vor, daß einzelne neue religiöse Bewegungen einen Austritt von Mitgliedern und Anhängern unmöglich zu
machen suchen.“ Es wurde allerdings festgestellt, daß der Ausstieg einen tiefgreifenden biographischen Einschnitt darstellt, der oft
eine intensive persönliche Krise bedeute, da „die eigene Identität in Frage gestellt sein kann und Gedanken, Gefühle und Beziehungen
neu orientiert werden müssen.“11 Allerdings ist zu bezweifeln, daß es
sich bei den während der Loslösungsphase erlebten Erfahrungen um sektenspezifische Phänomene handelt. Vielmehr sind sie typisch
für Umbruchsituationen mit Bezugsgruppenwechsel, können also genauso bei einem berufsbedingten Umzug in eine andere Stadt, einer
Ehescheidung o.ä. auftreten. |
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Dem widersprechen „Ehemalige“, deren „Aussteigerberichte“ in den Medien besonders
intensiv ausgebreitet werden. Solche „Apostaten“ sind in der Religionsgeschichte wohl bekannt. Bereits zuvor wurde darauf hingewiesen,
daß sie gute Gründe haben, mit ihrer ursprünglich freiwilligen Mitgliedschaft „abzurechnen“. Insgesamt ist die Zahl der Apostatenberichte,
gemessen an den Zahlen ehemaliger Mitglieder religiöser Minderheiten, relativ gering. Dennoch werden ihre singulären Erfahrungen als
typisch deklariert. „Wer als Mitglied einer religiösen Minderheit etwas anderes erlebt, wer also sein Leben in einer neureligiösen
Bewegung als sinnvoll, heilstiftend oder sogar als glücklich schildert, kann aus dieser Perspektive nur lügen. Oder, schlimmer noch,
er kann nur durch ungesunde Einflüsse seiner Gruppierung manipuliert worden sein. ... Was man den sog. Aussteigern zubilligt, nämlich
Authentizität und Glaubwürdigkeit, spricht man den Insidern ab. ... Damit wird ein Bild über die Zustände in neureligiösen Gemeinschaften
sowie über die Motive und Absichten ihrer Gründer konstruiert, das zwar öffentlichkeitswirksam ist, den tatsächlichen Gegebenheiten in
der Regel aber diametral widerspricht.“12 Dies erkannte auch das OVG Berlin, das in seiner Presseerklärung zum bereits erwähnten Urteil
im Prozeß um die Körperschaftsrechte der Zeugen Jehovas feststellte: „Mangels greifbarer objektiver Anhaltspunkte hat sich der 5. Senat
nicht veranlaßt gesehen, den in den zahllosen Berichten aufgestellten Behauptungen nachzugehen. ... Namentlich die im Auftrag der
Enquete-Kommission erstellten Gutachten belegten ... die These, daß bei der Bewertung solcher sog. Aussteigerberichte Zurückhaltung
geboten sei ... Daß sie ihren Erfahrungen mit der Gemeinschaft – und das gelte erst recht für nicht freiwillig Ausgestiegene – im
Nachhinein positive Aspekte abgewinnen könnten, sei kaum anzunehmen. Bei dieser Erkenntnislage ließen sich die Vermutungen des
Beklagten13 zu den Ursachen für die, wie er es ausdrückt, ‚verhältnismäßig
wenigen‘ Informationen seitens von ihm befragter Behörden und Institutionen nicht halten. Er übersehe, daß sich das Fehlen kritischer
Erfahrungsberichte aktiver Mitglieder der Klägerin nicht nur durch Furcht vor dem Ausschluß aus der Gemeinschaft, sondern mindestens
ebenso plausibel durch die Bedeutung von Religiosität für das individuelle psychische Befinden erklären ließen. Davon, daß ‚Fakten
daher hauptsächlich von Aussteigern und Ausgeschlossenen zu erwarten‘ seien, könne deshalb keine Rede sein.“14 |
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1 |
Endbericht Sekten-Enquete,
Sondervotum der Arbeitsgruppe der Fraktion Bündnis90/Die Grünen, S. 163f. |
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2 |
Beckford, S. 194.
Befragt wurden 166 Jugendliche über 16 Jahren, von denen 62 die Zeugen Jehovas verlassen hatten. |
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3 |
Hubert Seiwert, Der Staat als religiöser Parteigänger? Zu den
Widersprüchlichkeiten des Mehrheitsberichts der deutschen Enquete-Kommission. In: Besier, Scheuch, Bd.1, S. 347. |
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4 |
Berger, Hexel, S. 157 (sog. „Wiener Studie“).
Zitiert nach Usarski, S. 157. |
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5 |
Wolfgang Kuner, Zur Soziogenese einer Mitgliedschaft in der Vereinigungskirche.
In: Becker, Schreiner, S. 161. Zitiert nach Usarski, S. 132. |
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6 |
Usarski, S. 111, vgl.
Scheffler, S. 65. |
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7 |
Seiwert, a.a.O., S. 351f. |
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8 |
Süss, S. 33f. |
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9 |
Endbericht Sekten-Enquete, S. 167f. |
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10 |
Endbericht Sekten-Enquete, S. 81ff. |
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11 |
Endbericht Sekten-Enquete, S. 165f.
Anmerkung 44 nimmt Scientology hierbei ausdrücklich aus. |
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12 |
Süss, S. 31f. |
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13 |
Beklagter war das Land Berlin, Klägerin die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. |
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14 |
OVG Berlin, Pressemitteilung 8/2005. |
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